Die Premiere von Mutter Courage und ihre Kinder am Staatstheater Augsburg eröffnete zugleich das Brecht-Festival 2024 der Stadt unter der Leitung von Julian Warner zum Thema „No Future“ – ein Titel, der von der Punk-Szene geprägt wurde und in brechtscher Manier wichtige Fragen an Gegenwart und Zukunft aufwirft.[1] Betitelt als „Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg“ steht die Frage der Zeit auch im Vordergrund von Mutter Courage, in dem der Rückgriff auf die Gräuel des Dreißigjährigen Kriegs Brecht als Linse für eine kritische Betrachtung des Zweiten Weltkriegs gedient hat. Zugleich genießt das Stück den Ruf, aufgrund seiner anhaltenden Relevanz „zeitlos“ zu sein. Auf die Augsburger Courage trifft dies insofern zu, als dass die Inszenierung weitgehend auf Gegenwartsbezüge verzichtet und Brechts Dramenstoff auf auffallend traditionelle, geradezu modellhafte Art und Weise auf die Bühne bringt. Diese Werktreue ist auch in Brechts eigener Praxis zu finden, da er bekanntermaßen – und im Gegensatz zu seiner sonstigen Vorliebe für Überarbeitungen – das Stück nach seiner Rückkehr aus dem Exil nur geringfügig abgeändert hat. Es ist stattdessen das Publikum, das diese Aktualisierungsarbeit in der Augsburger Inszenierung selbst zu leisten hat in einer Zeit, in der Kriegsgeschehen omnipräsent und nahe sind. Auch wenn Regisseur David Ortmanns Herangehensweise zunächst konventionell erscheinen mag, so gelingt es ihm doch, insbesondere über eine nuancierte Neuinterpretation der Sprache in Courage einen Dialog zwischen dem 17., dem 20. und dem 21. Jahrhundert herzustellen.

Auf der weitläufigen Bühne der Augsburger Interimsspielstätte im Martini-Park steht viel Raum für das auch personell anspruchsvolle Stück zur Verfügung. Genutzt wird der Platz von Bühnenbildner Jürgen Lier für einen Orchestergraben zur rechten Seite, eine kleine Drehbühne im Hintergrund sowie zwei schwarze Wände zur Seite, auf denen Komparsen, die als Soldaten verkleidet sind, die stetig wachsende Zahl der Gefallenen mit Hilfe von Strichlisten dokumentieren. Trotz der Größe der Bühne hat der Wagen – der als ‚Bühne auf der Bühne‘ eine zentrale Rolle einnimmt – nur wenig Bewegungsspielraum, wodurch das Spiel der Darsteller*innen insgesamt eher statisch wirkt. Besonders hervorzuheben sind dabei die schauspielerischen Leistungen von Ute Fiedler als eiserne, aber dennoch zerbrechliche Mutter Courage, und von Gerald Fiedler als Feldprediger. Der einzig deutlich sichtbare Gegenwartsbezug zeigt sich in den von Ursula Bergmann entworfenen Kostümen. Nicht nur Mutter Courage tritt mit Pelz und moderner Steppjacke auf; auch die Uniformen und Requisiten der Soldaten kombinieren Versatzstücke von Militärkleidung der vergangenen Jahrhunderte, wodurch die ungebrochene Relevanz des Stücks auch visuell betont wird.

Die Inszenierung beginnt, im Gegensatz zu Brechts Vorlage, mit einem Lied, das Ute Fiedler als Mutter Courage ganz nach dem Vorbild des brechtschen Gestus atonal, mit Distanz zur Rolle und in klarer Abgrenzung zur Handlung darbietet. Musikalisch begleitet wird sie von Musiker*innen der Augsburger Philharmoniker unter der Leitung von Stefan Leibold. Fiedlers Auftritt wirkt in diesem Moment wie der einer Diva, die in das Rampenlicht tritt, um zu performen. Dieser eindrucksvolle Auftakt unterstreicht die große Bedeutung der Lautkulisse für die Inszenierung: Neben der musikalischen Begleitung spielen eindringliche Klänge wie der Kanonendonner, der Szenenübergänge markiert, oder die Geräusche, die durch das Aufzeichnen der Strichliste an der Wand entstehen, eine wichtige Rolle, und schaffen eine geradezu beklemmende Atmosphäre vor dem Hintergrund des Krieges.

Die zentrale Rolle der Lautkulisse spiegelt in gewisser Weise auch die Auseinandersetzung mit der Sprache wider, die für die Augsburger Inszenierung charakteristisch ist. Ortmanns Courage bleibt dabei Brechts Original auffallend treu und verzichtet auf Anpassungen. Die größte Neuerung – und zugleich der gewinnbringendste Teil des Abends – gelingt Ortmann mit der Interpretation der stummen Figur Kattrin, die von der gehörlosen Schauspielerin Anne Zander gespielt wird. Wie Zander im Programmheft schreibt, wird in Brechts Version „viel ‚über‘ Kattrin gesprochen – im Gegensatz dazu kommt sie in der Augsburger Inszenierung sehr deutlich zu Wort“ (17), und zwar über den Einsatz von Gebärdensprache. Die Produktion, deren Entwicklung im Probenprozess von einem Experten begleitet wurde, nutzt dabei neben der offiziellen Deutschen Gebärdensprache (DGS) auch lautunterstützende Gebärden (LUG) sowie Hausgebärden innerhalb der Familie. Im Verlauf des Stückes verfallen die Figuren – nach anfänglicher Nutzung von Gebärden – zunehmend zurück in rein lautsprachliche Kommunikation, was die Isolierung Kattrins nach dem emotional belastenden Verlust ihres Bruders Schweizerkas (gespielt von John Armin Sander) darstellen soll. Diese Entwicklung wird zwar im Programmheft erläutert, erschließt sich jedoch allein aus der Inszenierung heraus nicht klar genug und verlangsamt die Dynamik der Interaktionen. In der Tat sind die bewegendsten Momente diejenigen, in denen der Fokus ganz auf Kattrin liegt – wenn ihr die Bühne gehört und ihr Gelegenheit gegeben wird, sich über Choreographie und Gebärden zu artikulieren. Dadurch entstehen intensive, zutiefst emotionale Momente, die ihr Schicksal und Leiden eindrücklich vermitteln. Diese Emotionalität fehlt der Produktion ansonsten. In einer Zeit, in der wir permanent mit Kriegsbildern konfrontiert sind und zur Abstumpfung neigen, können Emotionen jedoch – ganz im brechtschen Sinne, und das zeigt das Beispiel der Kattrin – ein wichtiges Mittel sein, um das Bewusstsein zu schärfen.

Die Integration von Gebärdensprache steht beispielhaft für Ortmanns Bemühungen um inklusive Angebote am Staatstheater Augsburg. Für Mutter Courage wird deshalb auch der gesamte Stücktext via Übertitel, die auf einen Vorhang, der die Drehbühne umspannt, projiziert werden, zugänglich gemacht. Zusätzlich können die Übertitel in den Sprachen Englisch, Russisch und Türkisch auf das Smartphone geladen werden. Ausgewählte Vorstellungen werden zudem durch Gebärdensprachdolmetscher*innen begleitet. In dieser Hinsicht ist die Inszenierung absolut beispielhaft und vorbildlich.

Insgesamt ist zu sagen, dass der mit gut 3 Stunden vielleicht zu lange Brecht-Abend insbesondere aufgrund der innovativen Herangehensweise an die Figur der Kattrin eine herausragende Leistung darstellt. Die Umsetzung der Mehrsprachigkeit und die Integration inklusiver Angebote stellen dabei nicht nur einen Service an das Publikum dar. Vielmehr sind sie als integrativer Bestandteil der brechtschen Theaterpraxis zu verstehen. Der Einsatz von Übertiteln und verschiedenen Formen der Gebärdensprache setzt nicht nur Brechts Forderung nach einer „Literarisierung“ des Theaters um, ändert Techniken des Schauspiels und beeinflusst die Interaktionen und Dynamiken zwischen den Figuren; vielmehr verlangt er auch vom Publikum andere Seh- und Hörgewohnheiten und – dem Prinzip der Verfremdung folgend – einen anderen Blick auf Darstellung und Dargestelltes. Es ist der Prozess, nicht das Produkt, der dadurch ins Zentrum rückt. Insofern ist Ortmanns Courage ein starker Beitrag zum Augsburger Brechtfestival 2024, der auch darüber hinaus wichtige Impulse für die Theaterarbeit mit und nach Brecht liefert.

——————————————– Fotos: Jan-Pieter Fuhr


[1] Die Rezensentin hat die Aufführung nicht zur Premiere, sondern am 6. April 2024 besucht.

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