Issue 2021:1

The Demise of the Egoist Johann Fatzer (courtesy of Tmuna Theatre, Tel Aviv 2021)

TABLE OF CONTENTS

ZUR AKTUALITÄT BRECHTS
Digitale Podiumsgespräche mit Frank Raddatz und verschiedenen Expert*innen

1. “Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll.” Brechts Lesebuch für Städtebewohner und die Großstadt der 1920er Jahre (Ana Kugli)
2. Be a gangster! Krisenerfahrung und Souveränität in Brechts Dreigroschenoper und Greenaways The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover (Micha Braun)
3. Vom aktuellen B.B. (Tom Kindt)
4. Kapitalismus/Gefühle. Anachronismus und Utopie in der Dreigroschenoper (Günther Heeg)
5. Spuren Brechts im deutschsprachigen Theater der Gegenwart (Andreas Englhart)
6. Brecht Material – Material Brecht (Florian Vaßen)


ESSAYS

“Now I can see it crystal clear. The system is a seesaw.” Understanding the Economic Crisis through Saint Joan of the Stockyards (Georgios Sarantopoulos)

Im Nachhinein. Zur filmischen Dokumentation der Inszenierung des Urfaust (Brecht/Monk, Potsdam/Berlin, 1952/53) (Thekla Neuß)

“Literarisierung des Straßenbildes”: Bertolt Brecht’s Reflections on the Written Word’s Presence in the City Space (Olesya Ivantsova)

 

PERFORMANCE REVIEW

The Demise of the Egoist Fatzer in Tel Aviv, May-June 2021 (Yotam Gotal)

 

CONFERENCE REPORTS

MLA panel series “Ecocriticism and Brecht / Ecocriticism of Brecht”, January 2021 (Kristopher Imbrigotta and Elena Pnevmonidou)

1. Channeling Brecht in Two Recent Canadian Ecocritical Theatre Productions (Joerg Esleben)
2. Exploiting Nature, Exploiting Labor: Brecht’s The Exception and the Rule and Ecocriticism (Francesco Sani)
3. Against the Eco-Trance: Sounding Brechtian Estrangement in Environmental Media (Heidi Hart)
4. Brechtian Lyric and the Matter of Nature (Amir Hussain)
5. “Zeichne einen Baum, auf den du klettern könntest”: Embodied Perception as a Critical Tool in Brecht’s Nature Poetry (Robert Britten)
6. Staying in Place: Bringing The Great Immensity Home (Jason Fitzgerald)

 


ZUR AKTUALITÄT BRECHTS
Digitale Podiumsgespräche mit Frank Raddatz und verschiedenen Expert*innen

Anlässlich der Neuinszenierung der Dreigroschenoper am Ort ihrer Uraufführung veranstaltete das Berliner Ensemble drei digitale Podiumsgespräche, die der Frage nachgingen, wie lebendig Brecht im 21. Jahrhundert ist. Konzipiert und geführt wurden die Gespräche durch den Dramaturgen und Publizisten Frank M. Raddatz.

Auch 90 Jahre nach der Dreigroschenoper-Premiere 1928 am Theater am Schiffbauerdamm sind die Parallelen zwischen damals und heute offenkundig. Noch immer nährt sich das Kapital durch die Ausbeutung der Arbeitskraft und wie in den goldenen Zwanziger Jahren ist auch das neoliberale Babylon des Neuen Kapitalismus um das Geld zentriert. Zudem setzt das in der Weimarer Republik entworfene, gegen die Einfühlung gerichtete epische Theater mittlerweile schon in der dritten Generation ästhetisch innovative Kräfte frei. Publizist und Dramaturg Frank Raddatz sprach mit verschiedenen Brecht-Expert*innen in drei Veranstaltungen über Brecht im Kontext der Weimarer Republik, Brechts Kapitalismuskritik sowie die Nachwirkungen des epischen Theaters.

Alle Gespräche des Symposiums wurden kostenlos als Livestream übertragen. Hier finden Sie den Link zu den Videodokumentationen der Talks (nur Deutsch), mit freundlicher Genehmigung des Berliner Ensembles. Daneben publizieren wir hier die ausgearbeiteten Vortragstexte von Ana Kugli, Micha Braun, Tom Kindt, Günther Heeg, Andreas Englhart und Florian Vaßen mit abstracts auf Englisch. Die Texte wurden zusammengestellt und redigiert von Micha Braun, Vizepräsident der IBS.

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Ana Kugli
“Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll.” Brechts Lesebuch für Städtebewohner und die Großstadt der 1920er Jahre

Abstract:

The collection Aus dem Lesebuch für Städtebewohner, which Bertolt Brecht wrote in the 1920s during his early years in Berlin, comprises only ten poems. Sparser and more radical than his other works, the collection condenses the attitude toward life in the German metropolis of that time: Berlin. This contribution embeds the Lesebuch in the context of the twenties and the mood of life in Berlin at the time, exploring five of the poems in detail to give readers a sense of Brecht’s “sound.”

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Berlin in den 1920er Jahren

“Brecht ist wohl der erste bedeutende Lyriker, der vom städtischen Menschen etwas zu sagen hat,”[1] hielt Walter Benjamin in seinen Versuchen über Brecht fest. Diese Einschätzung verweist auf eine Gedichtsammlung Bertolt Brechts, die angesichts seines gesamten lyrischen Œuvres eher bescheiden anmutet. Gerade einmal zehn Gedichte umfasst die Sammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner, die er in den 1920er Jahren in seiner Anfangszeit in Berlin schrieb. Wie kein anderes seiner Werke verdichtet die Sammlung in ihrer kargen Poesie und Radikalität das Lebensgefühl in der deutschen Metropole: Berlin.

Es gab keine deutsche Stadt, die sich in jener Zeit mit Berlin in puncto Vielfalt, aber auch Widersprüchlichkeit hätte messen können. Die Spuren des Ersten Weltkrieges waren in den zwanziger Jahren in der Stadt deutlich sichtbar. Bittere Armut und Kriegsinvaliden gehörten zum Alltag. Die Weimarer Republik, die das Kaiserreich abgelöst hatte, war von politisch-weltanschaulicher Brutalität geprägt, was sich etwa in der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts äußerte. Als Industriestandort für Unternehmen wie Borsig, Siemens oder AEG zog Berlin nach dem Krieg immer mehr Menschen an, die auf Arbeit hofften. Viele der Arbeiter fristeten ein ärmliches Dasein in den beengten, düsteren Mietskasernen. Doch auch der technische Fortschritt war nirgends in Deutschland besser zu beobachten als in Berlin: Der Autoverkehr nahm zu, Busse und Straßenbahnen vermittelten das Gefühl von Urbanität und Schnelligkeit. Am Potsdamer Platz regelte ab 1924 ein Verkehrsturm, die erste Ampel Deutschlands, den Verkehr.

Berlin hatte sich in den Jahrzehnten zuvor unverkennbar und in rasantem Tempo zu der deutschen Metropole entwickelt. Noch 1850 hatte Berlin gerade mal 418.000 Einwohner. Bis zum Jahr der Reichsgründung 1871 hatte sich die Einwohnerzahl bereits verdoppelt. Sechs Jahre später wurde die Millionengrenze überschritten, und 1890 lebten bereits 1,6 Millionen Menschen in Berlin. Die dynamische Bevölkerungsentwicklung setzte sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges fort.[2] Seit dem Groß-Berlin-Gesetz von 1920, mit dem umliegende Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke eingemeindet worden waren, war Berlin mit seinen rund vier Millionen Einwohnern gar die drittgrößte Stadt der Welt (nach London und New York).

Berlin gelang es in dieser widersprüchlichen Zeit, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Kunst prosperierte. Gerade hier fand eine anti-bürgerliche Kunst mit sozialkritischen Tendenzen ihre Bühne. Es gab keine mitteleuropäische Großstadt, die seinerzeit über ein ähnlich pulsierendes Kulturleben verfügte: Kinos, Theater, Varietés bereicherten das Unterhaltungsangebot der Berliner. Zeitungsverlage wie Mosse oder Ullstein trugen mit ihren Publikationen zudem zum positiven Image der neuen Metropole bei.[3] Bald setzte sich die Meinung durch, dass nach Berlin müsse, wer in einem kulturellen Beruf Erfolg haben wolle − ein Ruf, dem Bertolt Brecht folgte. Er zog 1924 in die deutsche Metropole. Hier entstand die Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner.

Ein Lesebuch für Städtebewohner

Schon in seinem Tagebuch aus dem September 1921 hielt Brecht fest: “Die Feindseligkeit der großen Stadt, ihre bösartige steinerne Konsistenz, ihre babylonische Sprachverwirrung, kurz: ihre Poesie ist noch nicht geschaffen” (BFA 26, 236). Diesen Versuch wagte er mit dieser Sammlung. Ihr Name Aus dem Lesebuch für Städtebewohner suggeriert dabei, dass es sich um einen Auszug handle, der ausgewählte Gedichte “aus” einem größeren Lesebuch darstelle. Die zehn zugehörigen Gedichte − schlicht von 1 bis 10 nummeriert − sind in den Jahren 1926 und 1927 entstanden und wurden erstmals und in dieser Auswahl 1930 in den Versuchen veröffentlicht.[4]

Formal und inhaltlich knüpft Brecht mit seiner Sammlung an die Großstadtlyrik der Naturalisten und Expressionisten an.[5] Neu ist, dass Brecht in den Gedichten vornehmlich “ein völlig neues Verhalten der Städtebewohner in der Stadt” beschreibt.[6] Als “Fibel für die Erfahrung der Großstadt”[7] bescheinigten bisherige Deutungen dem Lesebuch dabei oftmals “eine lehrhafte Tendenz.”[8] Das Lesebuch für Städtebewohner richtete sich explizit auch an Nicht-Lesende. Brecht hatte die Gedichte so angelegt, dass sie sich gut zum lauten Vorlesen eigneten − er bezeichnete sie als “Texte für Schallplatten.”[9] Im Folgenden werden fünf dieser Gedichte interpretiert.

Anonymität als Gewinn

1

Trenne dich von deinem Kameraden auf dem Bahnhof
Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke
Such dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopft:
Öffne, o öffne die Tür nicht
Sondern
Verwisch die Spuren!

Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo
Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht
Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten
Zeige, o zeige dein Gesicht nicht
Sondern
Verwisch die Spuren!

Iß das Fleisch, das da ist! Spare nicht!
Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf jeden Stuhl, der da ist
Aber bleibe nicht sitzen! Und vergiß deinen Hut nicht!
Ich sage dir:
Verwisch die Spuren!

Was immer du sagst, sag es nicht zweimal
Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn.
Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ
Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat
Wie soll der zu fassen sein!
Verwisch die Spuren!

Sorge, wenn du zu sterben gedenkst
Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst
Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt
Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt!
Noch einmal:
Verwisch die Spuren!

[Das wurde mir gesagt.]

 

Das erste Gedicht der Sammlung (BFA 11, 157) beschreibt die Ankunft einer männlichen Person, die vom lyrischen Ich des Gedichts mit Du angesprochen wird, “auf dem Bahnhof” (Z. 2). Dem Ankömmling wird geraten, sich sofort an die Gepflogenheiten der Großstadt anzupassen, die vornehmlich auf das zielen, worauf der Sprecher am Ende jeder Strophe insistiert: “Verwisch die Spuren!” (Z. 7, 13, 18, 24, 30). Zu den empfohlenen Handlungsweisen zählt, sich vom Kameraden zu trennen (Z. 2), ihm nicht mehr die Tür zu öffnen (Z. 4f.), die Jacke zuzuknöpfen (Z. 3), die Eltern zu verleugnen (Z. 8f.), sich den Hut ins Gesicht zu ziehen (Z. 10), das Gesicht zu verbergen (Z. 11), Aussagen nie zu wiederholen (Z. 19), keine Unterschrift zu leisten (Z. 21) und auch dafür zu sorgen, dass nach dem eigenen Tod kein Grabstein “verrät, wo du liegst” (Z. 26).

Die eigenen Spuren zu verwischen, ist dem Sprecher zufolge notwendig, um das eigentliche Ziel des Städtebewohners zu erreichen: nicht fassbar zu sein (Z. 23), nicht auf etwas festgelegt werden zu können, also alles Individuelle abzustreifen und in der anonymen Masse der Großstadt aufzugehen. Anonymität − sonst als Manko der Großstadt postuliert − erscheint damit als ein Zustand, den es anzustreben lohnt, der sogar für das Überleben in den Städten notwendig ist.

Auffällig ist in diesem Gedicht die Rolle des Sprechers, der die Handlungsempfehlungen formuliert. Erst in der dritten Strophe gibt er sich zu erkennen: “Ich sage dir” (Z. 27). Und nur in der letzten Zeile verweist er ein zweites Mal auf sich: “[Das wurde mir gesagt.]” (Z. 31). Dieser letzte Satz relativiert alles bisher Gesagte, weil er betont, dass der Sprecher nicht etwa eigene Erfahrungen mitteilt oder feststehende Gesetzmäßigkeiten weitergibt, sondern lediglich wiederholt, was ihm geraten wurde. All das könnte aber auch falsch sein. Allerdings deutet der Sprecher durch die Klammern, in die er den Nachsatz stellt, an, dass er diese Information für eher nebensächlich hält, sie den Wahrheitsgehalt des Gesagten aus seiner Sicht nicht einschränkt. Gleichzeitig vollzieht der Sprecher damit auch das, was er dem mit Du Angesprochenen durchweg empfiehlt: Er verwischt seine Spuren, lässt sich nicht festlegen, bleibt nicht fassbar.

Die Raffinesse des Nachsatzes, der in ähnlicher Form und Funktion auch den Abschluss der meisten folgenden Gedichte bildet, liegt in diesen verschiedenen Bedeutungsebenen, die sich widersprechen, das Postulierte in der Schwebe halten, eine eindeutige Lösung verweigern.

Moral als unbrauchbare Kategorie

2

Wir sind bei dir in der Stunde, wo du erkennst
Daß du das fünfte Rad bist
Und deine Hoffnung von dir geht.
Wir aber
Erkennen es noch nicht.

Wir merken
Daß du die Gespräche rascher treibst
Du suchst ein Wort, mit dem
Du fortgehen kannst
Denn es liegt dir daran
Kein Aufsehen zu machen.

Du erhebst dich mitten im Satz
Du sagst böse, du willst gehen
Wir sagen: bleibe! Und erkennen
Daß du das fünfte Rad bist.
Du aber setzest dich.

Also bleibst du sitzen bei uns in der Stunde
Wo wir erkennen, daß du das fünfte Rad bist.
Du aber
Erkennst es nicht mehr.

Laß es dir sagen: du bist
Das fünfte Rad
Denke nicht, ich, der ich’s dir sage
Bin ein Schurke
Greife nicht nach einem Beil, sondern greife
Nach einem Glas Wasser.

Ich weiß, du hörst nicht mehr
Aber
Sage nicht laut, die Welt sei schlecht
Sage es leis.

Denn nicht die vier sind zu viel
Sondern das fünfte Rad
Und nicht schlecht ist die Welt
Sondern
Voll.

[Das hast du schon sagen hören.]

Ein lyrisches Wir spricht im zweiten Gedicht (BFA 11, 158f.) wiederum ein Du an, an das die folgenden Zeilen gerichtet sind. Das Du erkennt, dass es in der gegebenen Konstellation an Menschen “das fünfte Rad” (Z. 3) darstellt. Während das Du selbst begreift, dass seine “Hoffnung” (Z. 4) − wohl die, zur Gruppe dazuzugehören − sich nicht erfüllt hat und möglichst schnell “fortgehen” will, ohne “Aufsehen zu machen” (Z. 11f.), ist der Gruppe noch nicht klar, weshalb das Du “die Gespräche rascher” (Z. 8) treibt. Sie versuchen, den Fünften zum Bleiben zu bewegen. Just als dieser sich dazu entschließt, verstehen sie, weshalb er gehen wollte: “Wir sagen: bleibe! und erkennen / Daß du das fünfte Rad bist. / Du aber setzest dich” (Z. 15–17).

Ab diesem Moment verkehren sich die Rollen: “Also bleibst du sitzen bei uns in der Stunde / Wo wir erkennen, daß du das fünfte Rad bist. / Du aber / Erkennst es nicht mehr.” (Z. 18–21). Deshalb fühlt sich einer aus der Gruppe: “ich, der ich’s dir sage” (Z. 24) berufen, dem Du bewusst zu machen, dass er das fünfte Rad ist. Gleichzeitig bittet er den Angesprochenen, ihn nicht als “Schurke” (Z. 25) zu verurteilen oder gar gewalttätig zu reagieren (vgl. Z. 26). Er sei nun einmal der Überflüssige: “Denn nicht die vier sind zu viel / Sondern das fünfte Rad” (Z. 32f.). Vor allem sei nicht angebracht, moralische Kategorien ins Feld zu führen, weil diese der baren Wirklichkeit nicht standhalten: “Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll” (Z. 34–36).

Für den Städtebewohner lässt sich daraus ableiten, dass er erkennen sollte, wann es besser ist zu gehen und es dann auch zu tun, selbst wenn er um das Gegenteil gebeten wird. Da die Städte “Voll” (Z. 36) sind, liegt es in der Verantwortung jedes Menschen, seine Rolle zu finden und weiterzuziehen, wenn er überflüssig ist. Sich darüber zu echauffieren, ist unnütz, weil moralische Bewertungen angesichts der Realitäten obsolet geworden sind. Auch bei diesem Gedicht ist es der Nachsatz in Klammern, der die Leserinnen und Leser unschlüssig zurücklässt, ob die Feststellungen tatsächlich so gemeint sind oder nicht: “[Das hast du schon sagen hören.]” (Z. 37).

Brecht geht in dieser Sammlung, wie man an diesem Textbeispiel sieht, sehr kreativ mit den Perspektiven und dem lyrischen Ich um, so auch im vierten Gedicht.

Auf das Äußere fixiert

4

Ich weiß, was ich brauche.
Ich sehe einfach in den Spiegel
Und sehe, ich muß
Mehr schlafen; der Mann
Den ich habe, schädigt mich.

Wenn ich mich singen höre, sage ich:
Heute bin ich lustig; das ist gut für
Den Teint.

Ich gebe mir Mühe
Frisch zu bleiben und hart, aber
Ich werde mich nicht anstrengen; das
Gibt Falten.

Ich habe nichts zum Verschenken, aber
Ich reiche aus mit meiner Ration.
Ich esse vorsichtig; ich lebe
Langsam; ich bin
Für das Mittlere.

[So habe ich Leute sich anstrengen sehen.]

 

Eine Frau ist das lyrische Ich des vierten Gedichts (BFA 11, 160). “Ich weiß, was ich brauche” (Z. 2), sagt sie gleich zu Beginn. Jedoch stellt sie das durch reine Selbstbeobachtung fest: “Ich sehe einfach in den Spiegel / Und sehe, ich muß / Mehr schlafen” (Z. 3–5); “Wenn ich mich singen höre, sage ich: / Heute bin ich lustig” (Z. 6f.). Offenbar empfindet sie Müdigkeit und Fröhlichsein nicht von innen heraus, hat keinen Bezug zu ihren Emotionen. Die Sprecherin ist auf Äußerlichkeiten fixiert, so freut sie sich über ihre Fröhlichkeit, weil das “gut für / Den Teint” (Z. 89f.) ist, und sie gibt sich große Mühe, “Falten” (Z. 13) zu vermeiden. Ihre Anstrengungen zielen darauf, “Frisch zu bleiben und hart” (Z. 11).

Für eine Städtebewohnerin scheint das wichtig zu sein: Ihr Aussehen, ihre Frische und Jugendlichkeit sind es, an denen sich ihr Wert in der Großstadt bemisst. Die Härte ist notwendig, um sich nicht zu schnell zu verbrauchen, deshalb ist sie “Für das Mittlere” (Z. 18), sowohl beim Essen als auch beim Leben. Ob das eine richtige Haltung ist, lässt der Nachsatz in der Schwebe: “[So habe ich Leute sich anstrengen sehen.]” (Z. 19).

Mit den Träumen, die sich viele Neuankömmlinge in der Großstadt zu erfüllen hoffen, beschäftigt sich das achte Gedicht der Sammlung.

Träume und Hoffnungen ablegen

8
Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch
Eine Ausnahme machen wird.
Was eure Mutter euch sagte
Das war unverbindlich.

Laßt euren Kontrakt in der Tasche
Er wird hier nicht eingehalten.

Laßt nur eure Hoffnungen fahren
Daß ihr zu Präsidenten ausersehen seid.
Aber legt euch ordentlich ins Zeug
Ihr müßt euch ganz anders zusammennehmen
Daß man euch in der Küche duldet.

Ihr müßt das ABC noch lernen.
Das ABC heißt:
Man wird mit euch fertig werden.

Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt:
Ihr werdet nicht gefragt.
Die Esser sind vollzählig
Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch.

Aber das soll euch
Nicht entmutigen!

 

Träume, Kontrakte, Hoffnungen − sie gelten in der Welt der Städtebewohner nicht viel, wie dieses achte Gedicht (BFA 11, 163f.) in geradezu grausamer Deutlichkeit herausstreicht. Eine Gruppe von Menschen wird hier als “euch” angesprochen und über die Verhältnisse in der Großstadt aufgeklärt. Ihre “Träume” (Z. 2), dass es ihnen in der Stadt besser ergehen könnte als anderen, wird gleich zu Beginn als Illusion enttarnt, die Wünsche der eigenen Mutter als “unverbindlich” (Z. 5) bezeichnet. Doch selbst ein “Kontrakt” (Z. 6) wird in der Stadt “nicht eingehalten” (Z. 7). Die Hoffnung auf einen persönlichen Aufstieg, womöglich bis hin zum “Präsidenten” (Z. 9), wird ins Lächerliche gezogen: “Ihr müßt euch ganz anders zusammennehmen / Daß man euch in der Küche duldet.” (Z. 11f.). Und selbst da beginnt man in der Hierarchie weit unten: “Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch” (Z. 19). Die eigene Meinung, individuelle Gedanken haben in der Großstadt keinen Platz: “Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt: / Ihr werdet nicht gefragt” (Z. 16f.). Das “ABC” (Z. 14) der Großstadt laute: “Man wird mit euch fertig werden” (Z. 15). Das Gedicht scheint Neuankömmlinge auf die Realitäten der Stadt einschwören zu wollen, sie auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen, falls sie mit falschen Vorstellungen von ihrer Zukunft angereist sind. Trotz der harten, desillusionierenden Worte wird am Ende festgehalten: “Aber das soll euch / Nicht entmutigen!” (Z. 20f.).

Die Wirklichkeit selber

10

Wenn ich mit dir rede
Kalt und allgemein
Mit den trockensten Wörtern
Ohne dich anzublicken
(Ich erkenne dich scheinbar nicht
In deiner besonderen Artung und Schwierigkeit)

So rede ich doch nur
Wie die Wirklichkeit selber
(Die nüchterne, durch deine besondere Artung unbestechliche
Deiner Schwierigkeit überdrüssige)
Die du mir nicht zu erkennen scheinst.

Das letzte Gedicht ist häufig als “Leseanleitung”[10] der gesamten Sammlung gedeutet worden. In der typischen Struktur der meisten Gedichte bleibend, könnte man es auch als den Nachsatz zu allen Gedichten auslegen. Ein lyrisches Ich bezieht sich auf die verwendete Sprache, die als “Kalt und allgemein” (Z. 3) beschrieben wird, ohne die Wahrnehmung des Gegenübers: “Ohne dich anzublicken” (Z. 6) und ohne seine “Artung und Schwierigkeit” (Z. 7), also seine Individualität, zu würdigen. Das vorangesetzte “scheinbar” (Z. 6) macht dabei deutlich, dass die Individualität nicht geleugnet wird, sie aber im Kontext der Großstadt eben keine Rolle spielt.

Das Ich selbst gibt zu verstehen, dass diese Art der Kommunikation nicht ihm zu eigen sei, sondern lediglich die Realität spiegle: “So rede ich doch nur / Wie die Wirklichkeit selber” (Z. 8f.). Der Angesprochene wiederum scheint die Wirklichkeit “nicht zu erkennen” (Z. 12). Auch in diesem Gedicht geht es um die Anerkennung der Realität, ohne moralische oder emotionale Bewertungen vorzunehmen − denn sich behaupten kann ein Städtebewohner sich nur, wenn er die Gegebenheiten bedingungslos anerkennt und sich fügt. “Das Schlußgedicht besagt: Alle vorher gegebene Ratschläge, wie sich die Bewohner der großen Städte zu verhalten haben, zielen auf Erkenntnis ab, auf Erkenntnis einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Individualität negiert und in der das Individuum nur überleben kann, wenn es sich den vorgegebenen Verhältnissen radikal anpaßt.”[11] Wer die Realität verstehen und in ihr bestehen will, muss mit ihr einverstanden sein.[12]

Fazit

Das Einverständnis mit den Verhältnissen in der Großstadt ist dem Lesebuch nach die Grundvoraussetzung, um an ihr nicht zu scheitern. Ihre Anonymität, ihre Kälte, ihre Amoral als gegeben zu akzeptieren, sich von alten Illusionen zu verabschieden, verspricht bessere Erfolgsaussichten, als die Werte der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft zu beschwören, die in einer Metropole keine Bedeutung mehr haben. Dies ist allein der Tatsache geschuldet, dass die Städte “voll” sind − wo viele Menschen auf einmal leben, ist jeder gehalten, sein eigenes Durchkommen zu sichern.

Es mag ein kaltes Bild sein, das Brecht in seinen Gedichten von Städten im Allgemeinen und Berlin im Besonderen zeichnet. Und doch war es nicht nur in den zwanziger Jahren eine treffende Beschreibung − viele der Verhaltensweisen von Städtebewohnern sind bis heute zu beobachten.

 

[1] Walter Benjamin: Versuche über Brecht. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1966, S. 69.

[2] Vgl. Matthias Harder: “Stimmen der Moderne. Berlin in der Lyrik der Jahrhundertwende.” In: Ders., Almut Hille (Hg.): Weltfabrik Berlin. Eine Metropole als Sujet der Literatur. Würzburg 2006, S. 35–52, hier S. 36.

[3] Vgl. dazu Peter Fritzsche: Als Berlin zur Weltstadt wurde. Presse, Leser und die Inszenierung des Lebens. Berlin 2008.

[4] Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Sammlung und einzelner Gedichte aus ihrem Umkreis, vgl. den Kommentar in der BFA 11, 348–350.

[5] Vgl. dazu Carola Opitz-Wiemers: “Aus dem Lesebuch für Städtebewohner.” In: Brecht Lexikon. Hg. v. Ana Kugli und Michael Opitz. Stuttgart 2006, S. 12–13, hier S. 12 und Florian Vaßen: “Aus dem Lesebuch für Städtebewohner.” In: Brecht Handbuch in fünf Bänden. Band 2: Gedichte. Hg. v. Jan Knopf. Stuttgart 2001, S. 178–190, hier S. 179.

[6] Vaßen 2001, S. 180.

[7] Kommentar in der BFA 11, 350.

[8] Vaßen 2001, S. 178.

[9] Vgl. BFA 11, 349. Zum Lesebuch im Medienkontext, vgl. auch Vaßen, S. 184f.

[10] Jan Knopf: Gelegentlich: Poesie. Ein Essay über die Lyrik Bertolt Brechts. Frankfurt am Main 1996, S. 22.

[11] Knopf 1996, S. 23.

[12] Zum Begriff des Einverständnisses bei Brecht, vgl. Vaßen 2001, S. 182f.

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Micha Braun

Be a gangster! Krisenerfahrung und Souveränität in Brechts Dreigroschenoper und Greenaways The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover

Abstract:

Based on the shared perception of a crisis of the bourgeois subject in the Weimar Republic and present-day Europe, this article looks into Brecht’s Threepenny Opera and Peter Greenaway’s film The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover (1989), exploring the reactions of male and female characters and connecting them to the experience of (neo-)liberal de-sovereignization in the twenty-first century. The gangsterism of the bourgeois-male characters Peachum, Macheath and Spica is contrasted with the revengeful or unreliable reactions of Polly, Jenny and Georgina, which possibly offer alternative patterns of action. 

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Aus oft rein pragmatisch gewonnenen Jubiläumszahlen und in vielfältigen medialen Formaten – von Geschichtsdokumentationen, über Fernsehserien à la Babylon Berlin[1] bis hin zu Neuverfilmungen sowohl von Arbeiten Brechts als auch seinem Leben[2] – wurde uns in den vergangenen Jahren die Parallelität von Weimarer Zwischenkriegsrepublik und der europäischen Gegenwart vor Augen geführt. Außen vor gelassen wurde bei diesen sowohl erinnerungspolitischen als auch eskapistischen Geschichtsstunden die Zeit dazwischen – von mindestens 1945 bis 2010 – welche meines Erachtens zum einen weitere Bausteine für eine heutige Interpretation der Dreigroschenoper liefern, zum anderen aber Hinweise auf deren offenbar noch immer vorhandene Wirksamkeit geben kann. Denn nach meinem Dafürhalten kann Brechts “Stück mit Musik” nicht nur als ein publikumswirksames, weil amüsant unterhaltendes und belehrendes Rührstück gelesen werden, als welches es Welterfolge feierte, sondern zugleich als offene Analyse menschlicher Beziehungen, die sich in Zeiten sozialen Wandels erneut als kontingent und prekär herausstellen und welche heute mehr denn je zum Verhandlungsgut streng ökonomisch organisierter Gesellschaftsformen geworden sind.

Als Brecht und Weills Dreigroschenoper am 31.08.1928 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm Premiere feierte, war das ein zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehendes Fanal einer kommenden Zeit, die als große Depression oder Untergang der Weimarer Republik in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Der folgende, bzw. in Brechts Arbeiten der Zeit immer wieder bereits hinein zu lesende, Faschismus als eine extreme Reaktionsbildung auf gesamtgesellschaftlich verspürte Unsicherheiten und Überforderungen, sollte dem darin zur Selbsterkenntnis entstellten liberal-konservativen Bürgertum sowohl den Garaus machen als ihm auch zu einem übersteigerten Verwirklichungsversprechen verhelfen. Die von Brecht herbeigeschriebene Drohung einer proletarischen Revolution, einer Erhebung der Bettler und Beulen, die die bürgerlich-industrielle Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts hervorgebracht hatte und sie nun überwinden sollte, blieb hingegen aus bzw. nahm eine ungeahnte Form an, die sich zur globalen Katastrophe des 20. Jahrhunderts ausweiten sollte.

Nach dem polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman ist die erneute Nachkriegsgegenwart des 21. Jahrhunderts – zwischen Kaltem Krieg, dem “Ende der Geschichte” und dem Aufbruch in eine neue Phase postmoderner Lebensformen und Verhaltensweisen – maßgeblich geprägt von der Verantwortung des Einzelnen. In seinem 2017 postum erschienenen Buch Retrotopia stellt er die These auf, das zum ersten Mal seit der Begründung moderner Staatstheorie um die Mitte des 16. Jahrhunderts herum nicht mehr der Nationalstaat und seine Institutionen den Souverän stellt, sondern das bürgerliche Individuum wieder unfreiwilliger Träger aller Gewalt über sich und seine Handlungen sei.[3] Bauman verbindet seine Gegenwartsdiagnose dabei insbesondere mit der Aufkündigung der Vertragstheorie Thomas Hobbes, der den Naturzustand eines “Krieges aller gegen alle” durch einen Gemeinschaftsvertrag überwinden zu können glaubte, der in Repräsentation durch den Souverän, die Institutionen und die Polizei des modernen Staates die Beziehungen zwischen den Menschen regeln sollte. Dieser Vertrag sei, so Bauman, spätestens mit den ökonomisch getriebenen Reformen der 1970er und 1980er Jahre, die sich von der staatszentrierten Ökonomie eines John Maynard Keynes weg und hin zu den neoliberalen Denkmustern der Chicagoer Schule bewegte, aufgekündigt worden. Die unter den Schlagworten Reagonomics und Thatcherism vor allem im angelsächsischen Raum bekannt gewordenen Wirtschaftsreformen, die in den 1990ern nach dem “Ende der Geschichte” als laissez-faire-Kapitalismus und Ich-AGs einen globalen Siegeszug antraten, setzten stark auf den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen und die individuelle ökonomische Autonomie.

Damit aber, und das ist die folgenreichere Diagnose Baumans, verzichtet der Leviathan Hobbesscher Denkart auf ein wesentliches Instrument, das nicht nur ökonomische Beziehungen regelt: das Gewaltmonopol. Bei immer mehr Gelegenheiten erweist [der Nationalstaat] sich als unfähig, die von ihm zu bestimmende Grenze zwischen legitimer und illegitimer Gewalt zuverlässig zu ziehen und – als obligatorisch, bindend, unbeinträchtigbar und unpassierbar – zu verteidigen.[4] Bauman gibt dafür verschiedene Gründe an – der Verzicht auf territoriale Ansprüche, die unkontrollierte Proliferation von Waffen und Veränderungen in der Produktion und Rezeption von Medien – die hier aber keine weitere Rolle spielen sollen.

Was mich vielmehr interessiert, ist die Auslagerung, das outsourcing der Gewalt und der Kontrolle über seine sozialen Beziehungen auf das bürgerliche Individuum. Nicht nur steht der postmoderne Mensch wie nie zuvor selbst in der Verantwortung für sein eigenes wirtschaftliches Wohlergehen, für seine Ausbildung, sein Fortkommen und seine finanzielle Absicherung, er ist zudem auch zunehmend selbst verantwortlich für seine persönliche Sicherheit. Das verändert nicht nur das Verhältnis des Individuums zu den staatlichen Institutionen, sondern auch zu seinen nächsten Mitmenschen – die Notwendigkeit einer warenmäßigen Konzeption des Subjekts, das es gegen Verluste und Totalausfälle nicht nur in ökonomischer und gesundheitlicher, d.h. arbeitskraftbezogener Hinsicht abzusichern gilt, erstreckt sich zunehmend auch auf das leibliche Wohlergehen. Der vormals zumindest formal die Steuerung von Abhängigkeiten, sozialer Gleichheit und moralischer Kontrolle garantierende Nationalstaat ist nach Bauman mit dem Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts seines Glaubwürdigkeitskredites entledigt.

Dieser (Wirtschafts-)Krieg aller gegen alle, die liberal-warenförmig strukturierten Beziehungen, der Verbrauch anderer Menschen für seine eigenen, von neoliberaler Bedürftigkeit getriebenen Zwecke, zeichnet jedoch bereits die Dreigroschenoper in ihrer Anlage aus. Jan Knopf hat in seinem Brecht-Handbuch ebenso wie Ana Kugli in ihrer Dissertation über Geschlechterverhältnisse bei Brecht die ökonomisch strukturierten Beziehungen zwischen Macheath und Polly, Peachum und Polly sowie Peachum und Macheath umfassend herausgearbeitet.[5] In dem “soziologischen Experiment” des Dreigroschenprozesses hat Brecht schließlich auch die gesellschaftsprägende Funktion dieser warenförmigen Beziehungen deutlich gemacht.[6]

Und es ist auch kein Wunder, dass die Diagnose, die Zygmunt Bauman für unsere Gegenwart anstellt, offenbar auch schon Brecht und seine Zeitgenossen umgetrieben hat: So hat u.a. der Historiker Philipp Blom in seinem Buch Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914 den ganzen Horizont der Unsicherheiten und nachhaltig hinterfragten Narrative der Moderne, ihre Begriffe von Fortschritt, Individuum, kapitalistischem Welthandel, rationalistischem Ordo, physikalischer Stabilität der uns bekannten Welt aufgezeigt.[7] Die leibhaftige Erfahrung eines Krieges aller gegen aller, die jeden Optimismus erschütternde Zersetzung staatlicher wie individual-menschlicher Ordnungssysteme sorgten dann umso mehr für eine radikale Perspektive auf die Abgesichertheit menschlicher Existenz. Was blieb, war ein Rückzug auf rein geschäftsmäßige Beziehungen.

Und so lässt Brecht die Dreigroschenoper, die ja noch einmal in der Zeit zurückversetzt in einem nicht näher bestimmten 19. Jahrhundert spielt, mit der Litanei Peachums beginnen, dass “der zunehmenden Verhärtung der Menschen,” die aus ihrer konsumistischen Haltung der Welt gegenüber herrühre und die dafür sorgen, dass sich die geistigen wie die visuellen Hilfsmittel seiner Branche, Prothesen, Kostüme und Sinnsprüche auf Täfelchen, “so rasch verbrauchen,” nur mit unternehmerischer Innovation zu begegnen sei: “Es muß eben immer Neues geboten werden” (BFA 2, 233f.). Die Beziehungen der Menschen untereinander sind auf Geschäftsgrundlagen aufgebaut, die ihre Unnatürlichkeit und Künstlichkeit nicht verbergen: Nur in der kunstvollen und kunstfertigen Inszenierung von Bedürftigkeit und Vertrauenswürdigkeit zugleich ergibt sich der gewünschte Austausch von Gütern, Waren und Mitteln zwischen “Professionals” – und dieser muss samt seiner Rahmenbedingungen streng geregelt werden, sonst “berührt das nur widerlich” (BFA 2, 237) und verstößt gegen den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag: “Denn in der ganzen Christenheit / Da wird dem Menschen nichts geschenkt” (BFA 2, 307).

In einem solchen Zustand gesteigerter Nervosität angesichts der politisch-gesellschaftlichen Zustände verortet Brecht also seine Figuren und gibt ihnen die denkbar deutlichsten Spielanweisungen mit auf den Weg. Über Peachum etwa schreibt er in den “Anmerkungen zur Dreigroschenoper”:

Er ist zweifellos ein Schurke, und zwar ein Schurke im Sinn älteren Theaters. Sein Verbrechen besteht in seinem Weltbild. Dieses Weltbild ist in seiner Scheußlichkeit würdig, neben die Leistungen irgendeines anderen der großen Verbrecher gestellt zu werden, und doch folgt er nur dem “Zug der Zeit,” wenn er Elend als Ware betrachtet. (BFA 24, 59)

Die Reaktion des erschütterten und beziehungsunfähigen Individuums auf der Erfahrung einer Entwertung aller Werte ist bei Brecht die des Gaunertums: die Selbstorganisation des auf sich allein gestellten Individuums in flüchtigen Gemeinschaften, die sich weder auf eine staatliche Ordnung verlassen, noch den zunehmend dünneren Firnis einer bürgerlichen “Zivilisiertheit” ernstnehmen, reagiert auf eine soziale Blindheit öffentlicher Institutionen und das Outsourcing von gewaltbezogenen Handlungen. Staatlichkeit spielt schon in der Dreigroschenoper kaum noch eine Rolle – Polizeichef Brown stellt vielmehr mit Macheath eine Art im (Kolonial-)Krieg gestählter Schicksalsgemeinschaft her[8] – und so etwas wie Polizeigewalt wird einzig durch den Terror und den Raubtier-Modus der Gangsterbande verkörpert, die sich herausnimmt und mit einer gewissen Berechtigung behaupten kann, dass sie das Gewaltmonopol im Staate innehat. Dagegen hilft dann stückimmanent nur noch individuelle Gewaltsamkeit: So bietet z.B. das Lied “Die Seeräuber-Jenny (Lied eines kleinen Abwaschmädchens)” ein Erlösungsphantasma, das als genau solches – ein Phantasma der Gewalt und Souveränität – ausgestellt wird. Doch dazu kommen wir später.

Zugleich aber lautet Macs Direktive: “Blutvergießen ist zu vermeiden. Mir wird wieder ganz schlecht, wenn ich daran denke. Ihr werdet nie Geschäftsleute werden! Kannibalen, aber keine Geschäftsleute!” (BFA 2, 241).[9] Macheath hält – anders als seine Platte und auch Peachum – noch am Phantasma des zivilisierten Bürgers fest und sieht in ihm die einzige Absicherungs- und Aufstiegschance. Brecht schreibt dazu in den “Anmerkungen”:

Der Räuber Macheath ist vom Schauspieler darzustellen als bürgerliche Erscheinung. […] Er ist durchaus gesetzt, hat überhaupt keinen Humor, und seine Solidität spricht sich schon dadurch aus, daß er sein geschäftliches Augenmerk, mehr noch als auf die Beraubung Fremder, auf die Ausbeutung seiner Angestellten richtet. (BFA 24, 60f.)

Zygmunt Bauman sieht in solchem streng individualistischen und narzisstischen Verhalten eine logische Folge ökonomischer und therapeutischer Selbstoptimierung, die in unserer Gegenwart noch durch philosophisch begründete Formierungen einer “objektivistischen Ethik” á la Ayn Rand gesteigert wird, die Egoismus und Ablehnung von Geselligkeit zum Maß aller Dinge erhebt.[10] Die daraus gewonnene vermeintliche Autonomie und Individualität wird selbst wieder kapitalisiert und dem Einzelnen als Verantwortung aufgetragen, was zu den bekannten Folgen einer Aufkündigung jeglicher Solidarität und altruistischen Handelns führt.

Kommen wir nun zu einer Übertragung auf ein anderes, uns zeitlich näheres Beispiel, das die Parallelitäten und Unvergleichbarkeiten von Weimarer Republik und der postmodernen Gegenwart als eine Art Bindeglied oder ein tertium comparationis erhellen hilft: Eine besonders interessante Variante eines Gangsternarrativs, das direkt auf die neoliberale Kälte im Großbritannien der 1980er reagiert, und die bei Brecht aufgeworfenen Strategien des Gaunertums noch übersteigert, hat der britische Regisseur Peter Greenaway mit seinem Publikumshit The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover von 1989 geliefert.[11] Ich gebe eine kurze Inhaltsangabe, bevor ich auf Parallelitäten und Berührungspunkte zur Dreigroschenoper eingehe: Der Gangsterboss Albert Spica hat für seine Bande ein nobles französisches Restaurant übernommen und erpresst den Küchenchef Richard Boarst, dieses weiterzubetreiben. Seine Geschäfte bestehen weitgehend in Schutzgelderpressung und Zuhälterei – hierin haben wir es also durchaus mit einem Wiedergänger Macheaths zu tun. Der proletarisch sozialisierte, sich aber um eine gewisse Verfeinerung bemühende Spica ist verheiratet mit Georgina, die ihre edlere Herkunft insbesondere in ihren Tischmanieren verrät. Diese beginnt nun, abgestoßen von Spicas gewaltsamem Geschäft und ungeachtet der sehr realen Gefahr, selbst ein Opfer dieser Gewalt zu werden, eine Affäre mit dem ebenfalls täglich in dem Lokal speisenden Buchhändler Michael. Sie werden protegiert und unterstützt von Richard, der ihnen in der Küche Unterschlupf für ihre sexuellen Abenteuer bietet. Zufällig entdeckt und verraten von Patricia, einer der angeheuerten Prostituierten der Bande, müssen Michael und Georgina fliehen. Albert schwört, Michael aufzuspüren, zu töten und ihn aufzuessen. Zumindest die ersten beiden Akte gelingen auch – Michael wird äußerst brutal und mit Hilfe seiner eigenen Bücher zu Tode gequält. In einer letzten Nacht neben ihrem toten Geliebten fasst Georgina den Entschluss, auch Spicas dritte Drohung wahr werden zu lassen und bittet Richard, Michael für sie zuzubereiten. In einem finalen Festessen setzt sie ihrem Mann den toten Liebhaber vor und zwingt ihn, davon zu essen. Vor vielfachen Zeugen, die selbst Opfer von Alberts Gewaltsamkeit geworden sind, erschießt sie ihn daraufhin.

Etwa drei Viertel des Films spielen in dem Restaurant Richards und bieten Szenen, die formal insbesondere der brechtschen Hochzeitsszene von Polly und Mac vergleichbar sind: Spica versucht, seine Leute zu bürgerlichen Manieren zu erziehen, es wird über Raubzüge und das Essen phantasiert, sowie die unmittelbare Verwandtschaft unterschiedlicher leiblicher Vorgänge – Essen, Verdauung, Sexualität und Tod – philosophiert. Spica ist als ein aufstrebender, sich um bürgerliche Zivilisiertheit nur vordergründig bemühender Gangster vor allem als eifersüchtig, eitel und verletzlich gezeichnet. Auf ihn treffen die brechtschen Charakterisierungen von Peachum und Macheath gleichermaßen zu: Er tritt der unorganisierten, entstaatlichten Welt ängstlich und narzisstisch zugleich entgegen, sieht in seinen Geschäften seine persönliche Rache an der Gesellschaft und betrachtet sie zugleich aus einer rein konsumistischen Perspektive. Er möchte, so schreibt es ein Kritiker, am liebsten die ganze Welt – und damit schließlich auch sich selbst – verzehren.[12]

Diese Kennzeichnung des Gangsters im Thatcher-England der 1980er Jahre ist durchaus typisch[13]: Es geht auch hier um reine Konsumbeziehungen, die als Reaktionsbildungen auf eine individualistische, zugleich aber enormen Druck auf das Subjekt ausübende Gesellschaftsformation gekennzeichnet werden. Albert Spica ist nichts heiliger als sein Besitz (das Restaurant, Georginas Körper) und seine Außenwirkung, die er im theatralischen Style des Aufsteigers zu inszenieren versucht und doch immer wieder in klassistische Fallen und das Rowdytum des proletarischen Anti-chic zurückfällt. Zugleich übersteigert er die Reaktion Peachums auf den leeren Himmel bürgerlicher Erfahrung noch, indem er dessen kunstvollen und damit stets nur angedrohten Terror (die Revolution der Beulen und Bettler) in echten, irrationalen und unerwartbaren Terror weiterführt. Die ständige Produktion und Konsumption von Gewalt gebiert dabei stets neue Gewalt und wird der Bande und ihrem Anführer zum Selbstzweck. Sein unfreiwilliger Gegenspieler Michael wird hingegen als eine Art aristokratischer Dichter und Denker vorgestellt, der auf Georgina vor allem deswegen wirkt, weil er nicht spricht und nicht konsumiert. Die Affäre der beiden steht daher auch im bildlichen Sinne stark im Kontrast zu Spicas Versuchen des Distinktionsgewinns, insofern als sie vor allem nackt und ohne weiteres Dekor gezeigt werden.

Was nun verbindet aber diese beiden Plots über die auffälligen szenischen und charakterlichen Ähnlichkeiten hinaus? Ich denke, der Hauptverbindungspunkt ist ihre jeweilige historische Dimension: Greenaway bezieht sich, genau wie Brecht, auf eine Vorlage aus der englischen Theatertradition – bei Greenaway allerdings ein Jahrhundert früher. Seine Inspiration holte er sich aus einem Drama der “Jacobean era”: ’Tis Pity She’s a Whore von John Ford (1626/33) war ein erfolgreiches Tabustück über Inzest, das mitten in der jakobäisch-carolinischen Zeitenwende des frühen 17. Jahrhunderts entstand. In dieser Nach-Shakespeare-Zeit der Literatur und des Dramas spielten Vergebung und Rache eine enorme Rolle – soziale Konflikte waren oft aufgeladen mit mystischen, symbolischen und allegorischen Motiven, die die tiefe Verstrickung des Individuums in komplexe Weltzusammenhänge und melancholische Vergeblichkeitserfahrungen versinnbildlichten. Insbesondere die Regentschaft Charles/Karl I (1626–49) war dabei geprägt von politischen Konflikten zwischen Krone und Bürgertum, die schließlich in den Bürgerkriegen von 1642–44 und 1648 mündeten. Karl fühlte sich, wie zuvor auch schon sein Vater James/Jakob I., in seinem königlichen Alleinregierungsanspruch sowohl vom aristokratisch geprägten Parlament als auch von mächtigen bürgerlichen Handelsherren beeinträchtigt, weswegen er das Parlament 1629 sogar auflöste und allein regieren wollte.

Was Greenaway an der fordschen Vorlage interessiert, ist nicht so sehr der Inzest als Herausforderung moralischer Konventionen, sondern das Motiv der ungefilterten und ungestraften Gewalt (insbesondere gegen Frauen) und der Rache als Reaktionsbildung auf herausfordernde Situationen. Neben ihrer entlastenden Funktion – zumindest in narrativen Kontexten – besitzt sie natürlich auch eine moralische Dimension: Rache “beschmutzt” die vormalige moralische Überlegenheit des oder der Rächenden, da sie als ein “excess of justice” “stratagem[s] of … horror” einsetzt, um ihr Ziel zu erreichen, wie die Kulturtheoretikerin Catherine Belsey feststellt: “In adopting the other’s evil in order to turn it back on him, the revenger becomes morally tainted.”[14]

Terror und Rache als Reaktionsbildungen von Individuen auf den Horror, den die Gesellschaft verbreitet – diese Prozesse einer Ent-Souveränisierung des bürgerlichen Subjektes bzw. seine Versuche, Souveränität zurückzugewinnen, haben also nach Brecht und Greenaway gleichermaßen eine lange Tradition. Wie bei John Gays The Beggars Opera und Brechts Dreigroschenoper ist auch in Greenaways Film eine Situation adressiert, in welcher das Bürgertum in eine Krise gerät, die zuallererst als ökonomische Krise beschrieben wird, dabei aber eher eine Repräsentationskrise darstellt: Individuelle Verluste aus Spekulationsblasen,[15] der anhaltende Kampf bürgerlichen Parlamentarismus gegen absolutistisch agierende Fürsten sowie die dogmatische Privatisierung von Risiken und Verantwortlichkeiten durch die Strömungen eines autoritären (Neo-)Liberalismus bzw. Marktfundamentalismus versetzen dem bürgerlichen Versprechen auf Teilhabe immer wieder empfindliche Dämpfer. In Analogie zu historischen Vorbildern legen Brecht wie Greenaway hier also Reaktionsmuster bloß: Gangstertum, Terrorismus und Guerillataktiken stellen fundamentale Racheakte des gedemütigten bürgerlichen (und dabei immer erst einmal als männlich gesetzten) Subjekts an der “Gesellschaft” dar – eine geradezu theatralische Selbstermächtigung, die sich auch in einem bestimmten Stilbewusstsein niederschlägt.[16]

Zugleich aber setzt Greenaway – genau wie Brecht – dem die Reaktionsbildungen von Frauen entgegen. In den Geschlechterverhältnissen nämlich zeigt sich stets als erstes die Krisenhaftigkeit des bürgerlichen Standes. Georgina ist dabei, anders als Brechts Polly zunächst erscheint, keineswegs eine “submissive trophy wife,” die sich in ein eigenes Verhältnis zum Business ihres Mannes setzt, sondern eine widerspenstige und doch abhängige Person, die ihn immer wieder durch Wiederholung seiner eigenen gewaltsamen Sprache irritiert und subvertiert.[17] Zugleich aber ist sie eine vor allem sexuell selbstbestimmte Frau, die den ersten Schritt in Richtung der Affäre mit Michael geht. Die Geschlechterverhältnisse sind hier also umgekehrt zur Dreigroschenoper: Es ist Georgina, die mehr als einen Mann hat und die am Ende zunächst als Siegerin aus dem Rachedrama hervorzugehen scheint. Anders als Brecht – welcher für die Figur des “Verrates” die Prostituierte und frühere Geliebte Mackies Jenny einführt – setzt bei Greenaway die weibliche Hauptrolle die Handlung auch überhaupt erst in Gang und dominiert den Plot bis zum Ende, an welchem kein reitender Bote der Königin den Gangster von seiner Schuld freispricht, sondern Georgina ihn stellvertretend für die Gesellschaft (und das Publikum) richtet.

Die Ermächtigung der Frau, der Seeräuber-Jenny, gegenüber dem monetär-ökonomischen System des liberalen Can-do der Männer ist also ein gemeinsames Motiv bei Brecht und Greenaway – Georgina übernimmt quasi die Position des Gangsters, so wie Polly es mit Macs Position tut – und sie tut es im Übrigen nicht nur für sich, sondern – wie Douglas Keesey feststellt – für die Überwindung des männlichen, weißen Kolonialsystems: Der Film endet “with a theatrical act of vengeance on the parts of the women, children, people of color and servants against the white patriarch.”[18] Die brechtsche Seeräuber-Jenny/Polly und ihr viel zitiertes Spin-off – Grace aus Lars von Triers Dogville – brauchen für diesen Akt der Befreiung noch eine von außen kommende Macht (die Piraten bzw. den Mafia-Vater) – bei Greenaway aber ermächtigen sich die Geschundenen und Geknechteten selbst in einer revolutionären Geste, die zugleich zum Fanal wird: Eine Überwindung des gewaltsamen Systems wird selbst nicht ohne Gewalt auskommen, wird alle, die im Namen einer gerechteren Welt sprechen und agieren werden, selbst zu Tätern und Ungerechten werden lassen.

Der Can-do-Liberalismus und insbesondere seine Ausprägung des individualistischen und egoistischen Outsourcings von Verantwortung, Gewissen und Moral sind Aspekte, die Brecht und Greenaway gemeinsam interessieren. Zugleich aber werden in der abschließenden Emanzipation Georginas auch die Unterschiede zwischen dem eingangs postulierten “Weimar und wir” deutlich: Gegenwärtige Zuschauer*innen können sich an einer Seeräuber-Pistole wie der Dreigroschenoper nicht mehr ohne weiteres gefahrlos delektieren. Die von Brecht noch in aller Unschuld auszurufende proletarische Revolution hat sich längst zu einem Schreckbild mit vielfältiger kolonialistischer, modernistischer, faschistischer und rassistischer Fratze verändert – die Shoah steht in ihrer Singularität und Kraft zur Verstörung ebenso zwischen den Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten der Weimarer Republik und der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, wie die modernistischen Tabula-rasa-Vorstellungen der nationalsozialistischen, kommunistischen oder kolonialistischen Versuche einer radikal neuen Weltordnung.

Was aber ist noch zu gewinnen aus der Re-Lektüre von Brechts und Greenaways Vergeblichkeitsstudien und angesichts der noch zunehmenden überwältigenden Macht des liberalen Handels- und Konsumsystems? Ich denke – auch hier kann die Hochzeitsszene und das darin eingefügte Liederpaar von “Liebeslied” und “Die Seeräuber-Jenny” zum paragon werden – eine spielerische Haltung zur vermeintlichen Alternativlosigkeit, die sich insbesondere aus einem Verhalten speist: von Text zur Musik, von Musik zur Geste, von Epik zur Dramatik, vom Menschen zu seinen Rollen.[19] Mit Brecht gesprochen:

[…]
 Und gibt’s auch kein Schriftstück vom Standesamt
 Und keine Blumen auf dem Altar
 Und weiß ich auch nicht, woher dein Brautkleid stammt
 Und ist keine Myrte im Haar

Der Teller, von welchem du issest dein Brot
Schau ihn nicht lang an, wirf ihn fort.
Die Liebe dauert oder dauert nicht
An dem oder jenem Ort. (BFA 2, 254; Hervorhebung M.B.)

[…]
 Und es werden kommen hundert gen Mittag an Land
 Und werden in den Schatten treten
 Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür
 Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir
 Und fragen: Welchen sollen wir töten?
 […]
 Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle!
 Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!
 Und das Schiff mit acht Segeln
 Und mit fünfzig Kanonen
 Wird entschwinden mit mir. (BFA 2, 249f.; Hervorhebung M.B.)

Auf den Menschen darf eben kein Verlass sein. So wie Polly sich zu ihrem Macheath verhält – spielerisch, die vermeintlich zwingende Situation unterbrechend und damit souverän zumindest für einen Augenblick, öffentlich einen anderen Standpunkt einnehmend – so wäre auch ein Verhältnis zum anderen und zur vermeintlich alternativlosen Situation zu denken.[20] Ein gleichsam episches Verständnis von Haltung und Verantwortung gehört ebenso dazu: Der Mensch ist änderbar, denn er kann spielen. Zugleich aber muss er das auch wollen und bereit sein, die Verantwortung für sein Handeln vor sich selbst und anderen zu übernehmen.


[1] Vgl. dazu jüngst den Beitrag von Vera Stegmann: “Kracauer, Brecht und Babylon Berlin: Die Weimarer Republik in der Kriminalliteratur und im Neo-Noir Film.” In: The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 46 / 2021 (in Vorbereitung).

[2] Wie zuletzt etwa durch Heinrich Breloer: Brecht, 2 Teile. D, AT, CZ 2019. 180 min.

[3] Zygmunt Bauman: Retrotopia. Cambridge: Polity Press, 2017. Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe, aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017, insbes. S. 23–64.

[4] Bauman: Retrotopia, S. 31.

[5] Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Ungekürzte Sonderausg. Bd. 1: Theater. Stuttgart: Metzler, 1996, S. 59–61. Vgl. dazu ausführlicher Kugli, Ana: Feminist Brecht? Zum Verhältnis der Geschlechter im Werk Bertolt Brechts. München: m-press, 2006, S. 57–71.

[6] Vgl. Knopf: Brecht-Handbuch, Bd. 2: Lyrik, Prosa, Schriften, S. 507f.

[7] Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914. München: Hanser, 2010.

[8] Vgl. dazu die Ausführungen zu einer Wiederkehr des Tribalismus bei Bauman: Retrotopia, S. 65–73.

[9] Einen ganz ähnlichen Vorwurf macht Spica auch seiner Bande. Das Thema des Kannibalismus, dass in beiden Kontexten eine besondere Rolle spielt, kann hier leider nicht näher ausgeführt werden.

[10] Vgl. Bauman: Retrotopia, S. 161–164.

[11] Peter Greenaway: The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover, GB, F 1989. 124 min.

[12] Douglas Keesey: The Films of Peter Greenaway. Sex, Death and Provocation. Jefferson, London: McFarland, 2006, S.89: “Spiritually empty, Spica tries to fill the gap by devouring all matter of things around him, but their flesh is pregnant with decay as his. Rather than transcending mortality, he is eating death. His materialism hastens his own end, proving self-destructive, eating itself up.”

[13] Vgl. zu einer Einordnung dieses Films in das übrige Genre der “kitchen sink”-Gangsterfilme der Zeit Amy Lawrence: The Films of Peter Greenaway. Cambridge: Cambridge University Press, 1997, S. 165–175.

[14] Zitiert nach Keesey: The Films of Peter Greenaway, S. 84.

[15] John Gay schrieb viele seine Stücke – und insbesondere The Beggar’s Opera – auch und vor allem in Reaktion auf große finanzielle Verluste, die er während der sogenannten South Sea Bubble 1720 erlitten hat. Die 1920er Finanzkrise oder die englische Staatskrise der 1620er, in welcher das Parlament mehrfach die weitere Finanzierung des höfischen Haushaltes verweigerte, woraufhin Karl I. das Parlament 1629 auflöste, sind sicher als ähnlich einschneidende Erfahrungen auf individueller wie struktureller Ebene beschreibbar.

[16] Vgl. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 166: “Frequently attacked as glamorizing violence, gangster films as a genre are obsessed with issues of style; the most famous movie-gangsters are those who make violence stylish. […] Violence becomes the means by which the gangster demonstrates an effective and often highly stylized way of dealing with the world; having done so, he is able to attain the stylishness (in dress, surroundings, and so on) that consolidates his status as star, the center of attention.”

[17] Ibid., S. 180–182.

[18] Keesey: The Films of Peter Greenaway, S. 96.

[19] Worauf hier nicht eingegangen werden konnte, sind die vielfältigen Parallelen zwischen Dreigroschenoper und The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover in Bezug auf Musikalität, Szenenfolge/Diskontinuität, Szeneneinrichtung/Bühnenhaftigkeit, Bildhaftigkeit und emotionaler Distanziertheit – Greenaway nennt seine Herangehensweise “passionate detachment.” Dies wird anderen Gelegenheiten überlassen bleiben müssen.

[20] Die Gegen- oder vielmehr Komplementärposition wäre diese: Auch Mac gewinnt an Souveränität, wenn er die Unsicherheit zuzulassen lernt. Vgl. die Ausführungen Jan Knopfs zu dieser “epische[n] Musterszene” während der Hochzeitsfeierlichkeiten im leeren Pferdestall, in Knopf: Brecht-Handbuch, Bd. 1, S. 62: “Mac fühlt sich – unterstützt durch den Inhalt des Liedes – der Person Pollys nicht sicher, und dies im Moment, wo er sie endgültig in Besitz nimmt, wo er sich ihrer gerade sicher zu werden meint (sie ist ‘erobert’). Auf die epische Haltung angewendet, bedeutet dies: sie ist kein Verlust, kein Mangel an Vermögen, sondern ein grundsätzlicher Gewinn; es bedeutet ein Vorzeigen eines neuen menschlichen Vermögens, das nicht mehr nur dem unterworfen ist, was ist, sondern auch über das verfügen kann, was ist […]. Zu lernen ist: auf ‘den’ Menschen ist kein Verlaß […], er vermag sich zu ändern, ja, er vermag sich auch zu spielen” (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch die Beiträge von Ana Kugli und Günther Heeg in dieser Ausgabe von e-cibs.

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Tom Kindt
Vom akutellen B.B.

Abstract:

In three short sections, this essay attempts to illustrate why Bertolt Brecht’s work is still highly topical at the beginning of the 21st century. The first section traces this topicality back to the technique of Verfremdung; the second and third parts illustrate Brecht’s presentness, first through his depictions of the entanglements of economics, politics, and justice, and second through his literary explorations of the extension of market mechanisms to all social contexts.

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Wer die Frage nach der Aktualität eines literarischen Klassikers oder einer literarischen Klas­sikerin aufwirft, der stellt in der Regel eine rhetorische Frage. Näher betrachtet, ist die Frage meist nur ein Vorwand, um anlässlich eines runden Geburts- oder Todestages die bemerkens­werte Gegenwärtigkeit eines Werks der Vergangenheit behaupten zu können. Im Fall von Brecht und der Frage nach seiner Aktualität liegen die Dinge freilich anders. Nicht allein, weil auf absehbare Zeit kein schmissiges Brecht-Jubiläum ansteht. Sondern auch und vor allem, weil die Frage, ob er der Gegenwart noch etwas zu sagen hat, schon seit einem halben Jahrhundert eher mit Zweifeln oder auch schlicht mit Nein beantwortet wird.[1] “[E]r gehört zur Vergangenheit,” so hat Martin Walser schon Mitte der 1960er Jahre über Brecht geschrieben, um noch etwas gönnerhaft hinzuzufügen: “Nicht zum alten Eisen, sondern zum alten Gold.”[2] Was in der Zeit des internationalen Brecht-Booms der 60er Jahre ein vereinzelter provokativer Zwischenruf war, ist mittlerweile eine verbreitete, wenn nicht gar die dominierende Sichtweise geworden. Brecht, so wird weithin angenommen, habe über und für eine Welt geschrieben, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach und nach verschwunden sei.

Nun ist nicht zu bestreiten, dass Brechts Bild des Kapitalismus einer Zeit entstammt, in der es das Modell der sozialen Marktwirtschaft ebenso wenig gab wie den automatisierten Handel der digitalen Ära oder auch das, was nach Shoshana Zuboff als ‘Überwachungskapitalismus’ bezeichnet wird, also das elektronische Abschöpfen von Daten und ihre systematische Nutzung zur Prognose und Manipulation von Kaufverhalten.[3] Hieraus aber zu folgern, dass Brechts Werk veraltet sei, heißt anzunehmen, dass sich die Aktualität von Literatur aus der zeitlichen Nähe zur Gegenwart und der bloßen Nennung des Neuen ergibt – und das ist offenkundig abwegig.

Brecht selbst hatte eine andere Idee davon, warum literarische Werke der Vergangenheit, also etwa diejenigen Shakespeares, Goethes oder Schillers, obsolet werden oder aber aktuell bleiben. Und diese Idee erscheint nicht nur weniger abwegig, sie macht zugleich nachvollziehbar, warum uns so viele von Brechts eigenen Werken, obwohl sie nun rund ein Jahrhundert alt sind und obwohl ihre Handlungen oft in historisch noch weiter zurückliegenden Zeiten oder in eigentümlichen, keineswegs realistisch anmutenden Welten angesiedelt sind, warum sie uns gleichwohl so gegenwartsnah erscheinen, geradezu wie Erkundungen unserer Zeit und Stellungnahmen zu den Tendenzen und Problemen unserer heutigen Gesellschaft.[4] Für Brecht war die Frage nach der Aktualität von Literatur bekanntlich die Frage nach ihrem “Gebrauchswert” in der Gegenwart. Und um einen solchen Gebrauchswert zu haben, um treffend, erhellend und darum nützlich zu sein, durften Literatur und Theater nach seiner Überzeugung nicht wechselnden Gegenwartssensationen nachlaufen, sondern mussten versuchen, grundlegende Gesellschaftsmechanismen freizulegen. Leitend war für Brecht in diesem Sinne seit den 1920er Jahren ein Befund, den er in seiner Schrift Der Dreigroschen­prozess auf eine bündige Formulierung gebracht hat: “Weniger denn je [sagt] eine einfache ‘Wiedergabe der Realität’ etwas über die Realität aus […]. Eine Fotographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht” (BFA 21, 469).

Brechts Antwort auf dieses “Rutschen der Realität in die Funktionale,” sein Weg, um hinter den Oberflächenphänomenen gesellschaftliche Tiefenstrukturen sichtbar zu machen und auf diese Weise brauchbare und als solche haltbare Texte zu schreiben, war bekanntlich das Verfahren der Verfremdung: Schreib- und Aufführungsweisen also, die Realität nicht abbilden wollen, sondern zur Kenntlichkeit zu entstellen versuchen; die durch Über- und Untertreibung, Unterbrechung, Verschiebung oder Verzerrung von Handlungsabläufen Fragen aufwerfen und tieferliegende Zusammenhänge ahnbar machen; die beim gewohnten Trott gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Denkroutinen, Urteils- und Verhaltensmustern ansetzen, ihn ins Stocken und Stolpern bringen und so zum Nach- und Neudenken herausfordern. Mit Brechts eigener, mittlerweile “klassischer” Charakterisierung aus den 1930er Jahren gesagt: “Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich gemacht, das geschieht aber nur, um es dann um so verständlicher zu machen. Damit aus dem Bekannten etwas Erkanntes werden kann, muß es aus seiner Unauffälligkeit herauskommen; es muß mit der Gewohnheit gebrochen werden, das betreffende Ding bedürfe keiner Erläuterung” (BFA 22, 635).

Im Sinne solcher Überlegungen prägt Brechts Werk der Blick für das nur scheinbar Selbstverständliche wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, das bei näherem Hinsehen unverständlich, ja, nicht selten unvernünftig erscheint. Und es ist eben dieser Blick, wie ich nun in aller Kürze an zwei grundlegenden Themenkomplexen des Werks vorführen möchte, dem es seine augenöffnende Kraft und anhaltenden Brauchbarkeit für die Gegenwart verdankt.

Mit Händen zu greifen ist die Gegenwärtigkeit Brechts in den vielen seiner literarischen – meist satirisch ausgerichteten – Texten, in denen die Verstrickungen von Wirtschaft, Politik und Justiz zum Gegenstand werden. Gegenwartsnah mögen Werke wie die Dreigroschenoper, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, die Heilige Johanna der Schlachthöfe oder der Dreigroschenroman schon deshalb anmuten, weil in ihnen Lobbyismus, Mauschelei, Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft ins Bild gesetzt werden. Den Eindruck von bestürzender Aktualität, fast von seherischer Qualität, vermitteln einige der Texte aber dadurch, dass sie im literarischen Modell vieles vorwegnehmen, was sich nun in der realen Gegenwart live mitverfolgen lässt, etwa die Dynamik, die von rücksichtslosem wirtschaftlichem Wettbewerb über politische Macht zu juristischer Unangreifbarkeit führt.

Erstaunlich treffend und zeitgemäß ist in dieser Hinsicht insbesondere Brechts Die Ge­schäfte des Herrn Julius Cäsar aus den späten 30er Jahren. Das Romanfragment zeigt Cäsars Aufstieg zum Konsul als Gespinst aus Spekulation und Korruption, Schuldenmacherei und Kriegsgewinnlertum, in dem Politik nur die Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln ist. Eine frühe Brecht­-Notiz zum Cäsar-Stoff hält in diesem Sinne fest: “Eroberung der Welt auf der Flucht vor dem Gerichtsvollzieher” (BFA 10.2, 791). Gegenstand des Romans ist aber nicht allein der Weg Cäsars an die Macht, der Text handelt zugleich von der verfälschenden Darstellung dieses Wegs innerhalb der Geschichtsschreibung. Die Rahmenerzählung des Fragments schildert, wie ein junger Anwalt 20 Jahre nach dem Tod Cäsars dessen Biographie schreiben möchte, im Zuge seiner Recherchen aber erkennen muss, dass es sich bei den vorliegenden Schilderungen und vorherrschenden Sichtweisen um völlig haltlose Legenden handelt. Für Brechts Zeitgenossen wie Hanns Eisler war der Roman vor allem eine “große Parabel” über “die Herren Hitler und Mussolini.”[5] Aus heutiger Sicht fällt es schwer, den Text zu lesen, ohne den Eindruck zu gewinnen, hier werde – avant la lettre – die Geschichte Donald Trumps als historische Allegorie präsentiert.

Dass Politik und Justiz von der Wirtschaft geschluckt werden, setzt auch Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ins Bild – freilich aus umgekehrter Perspektive. Führt der Dreigroschenroman vor, dass aus wirtschaftlicher Macht juristische Unbelangbarkeit resultieren kann, zeigt die Mahagonny-Oper eine Gesellschaft, in der nach der gleichen Logik Geldmangel Rechtlosigkeit bedeutet. Am Ende wird der Holzfäller Paule Ackermann, weil er drei Flaschen Whisky und eine Storestange nicht bezahlen kann, zum Tode verurteilt: “Wegen Mangel an Geld / Was das größte Verbrechen ist / Das auf dem Erdenrund vorkommt” (BFA 2, 381), wie Begbick, Willy und Dreieinigkeitsmoses verkünden, die in Mahagonny Aufsichtsrat, Verwaltung und Gericht in Personalunion darstellen.

Neben der Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Justiz ist ein weiterer zentraler Themenkomplex zu nennen, dessen literarische Reflexion den Werken Brechts bleibende Relevanz sichert: die Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf die Lebenswirklichkeit, das Einwandern und Vordringen der Logik des Marktes in alle gesellschaftlichen Zusammenhänge bis hinein in familiäre und Intimbeziehungen.

In der Dreigroschenoper gewinnt dieser Prozess musterhaft in der Figur Peachum Gestalt. Der Chef der Bettlerbande, dem noch das Elend zur Ware wird und der, wie Brecht in seinen “Anmerkungen” zur Oper schreibt, “nicht in, sondern von der Moral lebt” (BFA 24, 59), er ist als Verkörperung des Zusammenhangs zwischen Gewinnstreben und Verrohung angelegt. Wie grundlegend sein Denken, Fühlen und Handeln durch rein ökonomische Erwägungen bestimmt wird, zeigt sich unmissverständlich darin, dass er selbst seine Tochter nur im Hinblick auf das eigene Geschäft zu betrachten vermag. Als Polly von ihrem Plan berichtet, Macheath zu heiraten, macht Peachum seiner Frau Vorhaltungen: “Cecilia, du schmeißt mit deiner Tochter um dich, als ob ich Millionär wäre! Sie soll wohl heiraten? Glaubst du denn, daß unser Drecksladen noch eine Woche lang geht, wenn dieses Geschmeiß von Kundschaft nur unsere Beine zu Gesicht bekommt? Ein Bräutigam! Der hätte uns doch sofort in den Klauen!” (BFA 2, 237). Peachum veranschaulicht in der Dreigroschenoper allerdings nicht allein die Verrohung, son­dern auch die Verblendung, die mit seiner gesellschaftlichen Situation einhergeht. Die Verantwortung für sein brutales Verhalten schiebt er auf die sozialen Umstände: “Wir wären gut – anstatt so roh / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so” (BFA 2, 263).

Auch die Mahagonny-Oper entwirft ein facettenreiches, erhellendes Bild der expansiven gesellschaftlichen Tendenzen des Wettbewerbs- und Warendenkens. Die Wüsten- und sogenannte “Paradiesstadt” wird von ihren Gründern als Ort verkauft, an dem es keine Arbeit und nur Vergnügen gibt. Wie sich freilich zeigt, ist Mahagonny in Wahrheit ein Wirt­schaftsunternehmen, dass unter dieser Vorgabe – Brecht hätte sie eine “jämmerliche Pensionistenidee” (BFA 21, 336) genannt – darauf angelegt ist, die Ausbeutung der Menschen jenseits ihrer Arbeitsverhältnisse auch in ihrer Freizeitgestaltung fortzusetzen. Alles ist hier den Gesetzen des Marktes unterworfen, Spiel und Vergnügen wird zum lebensbedrohlichen Wettbewerb, Liebe und schließlich auch Freiheit zur Ware.

Selbstentfaltung und Glück erhofft sich der Holzfäller Ackermann von der Abschaffung der Regeln und Verbote Mahagonnys; indem er für diese Abschaffung aber zu bezahlen bereit ist, bestätigt und erhält er das entscheidende Gesetz der Stadt, das der Käuflichkeit. Witwe Begbick macht er den Vorschlag: “Ja, denn ich, der ich listig bin, zerschlage lieber deine Tafeln und deine Gesetze, und deine Mauern müssen hin sein. Wie der Hurrikan es macht, so mache ich es auch. Du bekommst Geld dafür. Hier ist es” (BFA 2, 359). Was Ackermann durch diesen Kauf gewinnt, ist nicht die Freiheit, er entfesselt vielmehr einen anarchischen Kapitalismus, der Mahagonny in den Untergang trudeln lässt. Im fehlschlagenden Kauf von Freiheit und seinen Folgen wird in der Mahagonny-Oper musterhaft deutlich, was für die meisten Figuren in Brechts Stücken gilt: Sie durchschauen die schlechten Verhältnisse nicht, in denen sie leben, und tragen so zu deren Verfestigung bei. Entsprechend träumen und singen die Männer von Mahagonny noch beim gekauften Sekundenbeischlaf im Bordell von ewiger Liebe.

Der Blick für solche Widersprüche wie denen zwischen Handlungswelt und Weltsicht der Figuren ist es dem Brechts Werke ihre anhaltende Aktualität verdanken – und die augenöffnenden Effekte, die in den Eingangsversen des Lehrstücks Die Ausnahme und die Regel als eine Art Lektüreanleitung umschrieben werden: “Betrachtet genau das Verhalten dieser Leute: / Findet es befremdend, wenn auch nicht fremd. / Unerklärlich, wenn auch gewöhnlich. / Unverständlich, wenn auch die Regel. / Selbst die kleinste Handlung, scheinbar einfach / Betrachtet mit Mißtrauen! Untersucht, ob es nötig ist / Besonders das Übliche! / Wir bitten euch ausdrücklich, findet / Das immerfort Vorkommende nicht natürlich! / Denn nichts werde natürlich genannt / In solcher Zeit blutiger Verwirrung / Verordneter Unordnung, planmäßiger Willkür / Entmenschter Menschheit, damit nichts Unveränderlich gelte.” (BFA 3, 237f.)

[1] Vgl. zu den Anfängen dieser Entwicklung Tom Kindt: Brecht und die Folgen. Stuttgart 2018, S. 116–124.

[2] Martin Walser: Erfahrungen und Leseerfahrungen. Frankfurt a.M. 1965, S. 82.

[3] Shoshana Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power. New York 2019.

[4] Beispiele für Brecht-Texte, die diesen Eindruck vermitteln, versammelt die Anthologie “Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?” Das Brecht-Brevier zur Wirtschaftskrise. Hg. von Tom Kindt. 2. Aufl. Berlin 2016.

[5] Hanns Eisler: Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge. Darmstadt, Neuwied 1986, S. 131.

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Günther Heeg

Kapitalismus/Gefühle
Anachronismus und Utopie in der Dreigroschenoper
1

Abstract:

At first glance, Brecht’s Threepenny Opera and Rise and Fall of the City of Mahagonny seem to be based on completely different images of capitalism and the libidinal economy: the renunciation of drives and a Protestant bourgeois ‘work ethic’ on the one hand, a pleasure and amusement capitalism on the other. In a comparison of the underlying social and emotional dynamics, however, a very similar finding emerges: in a ‘simultaneity of the non-simultaneous’ (Ernst Bloch), reactionary and emancipative movements clashed in the late bourgeois condition of the early 20th century, giving expression to the increasing complexity of a globally intertwined economic and political situation. In a practice of historicization and repetition, Brecht opposed the heteronormative, retrotopian, and identity-political ideologies of that time ―which do not seem at all dissimilar to contemporary movements―with an experience of inauthenticity that unfolds a utopian power in the deconstruction of the supposed lack of alternatives of such ideological worldviews.

*************************

Anachronismus
Das Jahr 1928, das Jahr der Uraufführung der Dreigroschenoper, war das letzte Jahr der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik, der kurzen Zeit einer mit Krediten finanzierten Prosperität zwischen der Inflation von 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929. Es ist die Zeit, die den Mythos der Goldenen Zwanziger Jahre geschaffen hat, die Zeit, in der der Amerikanismus als kulturelle Lebensform erstmals seine Anziehungskraft entfaltet2: Massenkonsum hier und jetzt statt Verzicht und Gratifikationsaufschub. Tanz- und Kinopaläste, Revuetheater und Luna Parks werden zu Orten der Entsublimierung und des sexuellen Vergnügens der neuen Klasse der Angestellten, wie Siegfried Kracauer sie beschrieben hat3. Sie bieten das neue Gesicht eines Kapitalismus, der vom Konsum angetrieben wird und keinen Triebverzicht mehr braucht. Sondern dem die Devise: “Vor allem aber achtet scharf,/ Dass man hier alles dürfen darf“ zum Lebenselixier geworden ist. Die Aufforderung zum unbeschränkten Genießen darin stammt nicht aus der Dreigroschenoper, sondern ist ein Zitat aus der zwei Jahre später aufgeführten Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, ebenfalls von Brecht und Weill. Mahagonny, das zur Goldgräber- und Städtegründerzeit im Wilden Westen spielt, scheint im Vergleich zur Dreigroschenoper auf den ersten Blick die weitaus modernere zu sein. Moderner im Hinblick auf die neue Gestalt des Kapitalismus, die diese Oper in den Blick nimmt. Das Gold, das in Alaska mühsam erworben und zusammengespart wurde, muss ausgegeben werden. Deshalb heißt es: Fressen, Ficken, Saufen und sich Schlagen solange, bis das Geld alle ist. Mahagonny entwirft das Bild einer ungezügelten kapitalistischen Vergnügungsindustrie und ist damit auf der Höhe der Zeit im kritischen Gleichschritt mit der, so will es scheinen, modernsten Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Dagegen sieht die Dreigroschenoper auf den ersten Blick alt aus. Mitten im vergnügungssüchtigen Berlin der zwanziger Jahre versetzt sie eine anachronistische Figur des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts aus dem Fundus der Geschichte zurück auf die Bühne: den als Bettlerkönig apostrophierten Unternehmer Jeremy Peachum. Peachum ist eine Figur des viktorianischen London, seine Herkunft ist unklar, vielleicht liegt sie im Dunkel des Verbrechertums, aus dem Peachums Rivale, der Räuber Macheath herkommt. Vielleicht hat Peachum bereits früher so wie Macheath jetzt erkannt, dass sich der größte Gewinn nicht aus kriminellem Raub, sondern aus den legalen Geschäften der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ziehen lässt. “Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?” Kaum voneinander entfernt sind Bürger und Räuber in dieser Frühzeit des Kapitalismus. Peachum und Macheath sind deshalb eigentlich Konkurrenten. Peachums Tocher Polly, die Macheath geheiratet hat, ist nur Manövriermasse zwischen den beiden – jedenfalls aus der Sicht der beiden Männer. Mehrmals versucht Peachum, seinen Konkurrenten auszuschalten, indem er ihn – durch den Verrat der Huren – ins Gefängnis bringen lässt. Macheath weiß das durch seine guten Beziehungen zum Polizeichef von London, Tiger Brown, einem alten Kriegskameraden zu verhindern. Und als selbst Tiger Brown nicht mehr zu helfen vermag, rettet der reitende Bote der Königin Macheath vorm Galgen. Von den Huren bis zur Königin, vom Räuber bis zum Polizeipräsidenten durchmisst die Dreigroschenoper das Spektrum einer frühkapitalistischen Klassengesellschaft, in der alle Beziehungen und Gefühle zwischen den Menschen am Gesetz des Marktes orientiert sind. Die Beziehungen werden auf ihren Tauschwert, d.h. ihre Verwertbarkeit bei der Optimierung der Unternehmungen hin abgeklopft, die Gefühle müssen in Schach gehalten werden, dass sie der Rechenhaftigkeit des Geschäftsgebarens nicht in die Quere kommen. Der Prototyp dieses kapitalistischen Beziehungs- und Gefühlsathletik aber ist Peachum.

“Wach auf Du verkommener Christ”, mit diesem Morgenchoral beginnt Peachum seinen Alltag. Mit größter Sorge und Sorgfalt führt Peachum täglich die Geschäfte auf die brutalst mögliche Weise (“Verkauf Deinen Bruder, du Schuft!/ Verschacher dein Ehweib du Wicht!”) nach den Regeln der strengsten protestantischen Ethik. Max Weber hat 1904 in seiner Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus eine asketische Lebensführung, wie sie besonders der Calvinismus fordert, als adäquate Einstellung und Haltung kapitalistischen Unternehmertums beschrieben.4 Ihnen folgen Herr und Frau Peachum. Ihre Devise lautet: Triebverzicht! Nicht aus ursprünglich religiösen Gründen heraus, sondern um die Akkumulation des Kapitals nicht zu gefährden. Die sexuelle Hingabe der Tochter Polly an den Räuber Macheath ist für Peachum und seine Frau verwerflich, weil der Verlust der Tochter für Peachum den drohenden Ruin bedeutet. Die Peachums wissen: Romantische Flausen – “Das ist der Mond über Soho/ Das ist der verdammte ‘Fühlst-Du-mein-Herz-Schlagen’-Text” – schlagen um in die Forderung nach Vergnügen und Spaß. “Anstatt daß“, empören sich die Eltern Peachum, “Sie zu Hause bleiben und im warmen Bett/ Brauchen Sie Spaß/ Grad als ob man ihnen eine Extrawurst gebraten hätt.” Spaßbremsen sind aber nicht nur Peachum und seine Frau, sondern auch die gescholtene Tochter Polly, die angesichts möglicher romantisch-sexueller Ausschweifungen im Song vom Nein und Ja sehr genau weiß:

Da behält man seinen Kopf oben
Und man bleibt ganz allgemein.
Sicher scheint der Mond die ganze Nacht
Sicher wird das Boot am Ufer festgemacht
Aber weiter kann nichts sein.
Ja, da kann man sich doch nicht nur hinlegen
Ja, da muß man kalt und herzlos sein.
Ja, da könnte so viel geschehen
Ach, da gibt’s überhaupt nur: Nein.

Kälte und Herzlosigkeit sind die gefühllosen Gefühle, die benötigt werden, um im Alltag der Geschäfte den Kopf oben zu behalten, Gefühle, die Polly sehr zu passe kommen, als ihr Gatte Macheath im Gefängnis sitzt und sie seine Unternehmungen sehr gut und genau zu führen weiß. Und selbst dieser Macheath, zwar momentan noch im Gefängnis, aber perspektivisch auf dem Weg vom Räuber zum angesehenen Bürger – Aktie gegen Dietrich tauschend, den Besitz einer Bank dem Einbruch in sie vorziehend – hat bei genauerem Hinsehen bereits die Mentalität eines kleinlichen Buchhalters, der auf strenge bürgerliche Ordnung hält.

Allerdings sieht man auch gerade bei Polly und Macheath, wie schwer der Kampf gegen Begehren und Triebgewohnheiten ist. Dreimal hält Polly im Song vom Nein und Ja der Versuchung stand, aber einmal hilft es ihr nicht, den Kopf oben zu behalten und ganz allgemein zu bleiben:

Jedoch eines Tags, und der Tag war blau
Kam einer, der mich nicht bat
Und er hängte seinen Hut an den Nagel in meiner Kammer
Und ich wusste nicht, was ich tat.
Und als er kein Geld hatte
Und als er nicht nett war
Und sein Kragen war auch am Sonntag nicht rein
Und als er nicht wußte, was
Sich bei einer Dame schickt,
Zu ihm sagte ich nicht “Nein“.
Da behielt ich meinen Kopf nicht oben
Und ich blieb nicht allgemein.
Ach, es schien der Mond die ganze Nacht
Und es ward das Boot am Ufer losgemacht
Und es konnte gar nicht anders sein!
Ja, da muß man sich doch einfach hinlegen
Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein.
Ach, da mußte so viel geschehen
Ja, da gab’s überhaupt kein Nein.

Es ist die Romantik des Antibürgerlichen, die Polly den Kopf verdreht und zur Heirat mit dem Räuber Macheath verführt hat, während Macheath das antibürgerliche Flair des Räubers kalkuliert für seine Vorgaben einzusetzen weiß.

Gegen den Triebstau hat Macheath ein bewährtes, aber nicht ungefährliches bürgerliches Ventil gefunden: den regelmäßigen Gang zu den Huren, der ihn zweimal ins Gefängnis bringt. Riesengroß ist im Zeitalter des puritanischen Kapitalismus die Faszination der sexuellen Hörigkeit, die die gleichnamige Ballade besingt: “Am Mittag zwingt man sich, dass man nicht Sellerie frisst/ am Nachmittags weiht man sich noch ‘ner Idee./ Am Abend sagt man: mit mir geht’s nach oben/ Und vor es Nacht wird liegt man wieder droben.” Unterm Diktat der asketischen Lebensführung ist Sexualität ein hohes, knappes Gut. Andere Möglichkeiten männlicher Entladung bietet nur der Krieg mit den größten aller Rohre, die den Räuber Macheath und den Polizeichef Tiger Brown verbinden:

Soldaten wohnen
Auf den Kanonen
Von Cap bis Couch-Behar 
Wenn es mal regnete
Und es begegnete
Ihnen ’ne neue Rasse
’ne braune oder blasse
Da machten sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tartar.

Puritanisch, sexualitätsfixiert und aggressiv-roh: Anachronistisch scheint die Gefühls- und Triebwelt dieses Kapitalismus zu sein, der nichts von der Spaß- und Konsumgesellschaft des Mahagonny-Kapitalismus hält. Dabei ist er andererseits sehr modern in seiner neoliberalen Staatsferne und Marktaggressivität5. Hinzukommt die totale Fassadenhaftigkeit, die die Geschäfte verbirgt. Nichts darf sichtbar werden von der Gewalt, die für ihre Durchführung benötigt wird. Anders als der Haifisch, der die Zähne im Gesicht trägt, sieht man die Taten des Macheath nicht, wie es gleich zu Beginn die Ballade von Mackie Messer betont. Es ist als ob er und Peachum dem Rat folgten, den Brecht den Haifischen 1948 in der Prosa-Parabel Wenn die Haifische Menschen wären indirekt gegeben hat: Mit einer geschickten kulturellen Fassade läuft das Fressen, die Ausbeutung nochmal so gut. Es gibt in der Dreigroschenoper kein reales Elend, kein Proletariat. Die Ärmsten der Armen sind gezielt kostümierte Schauspieler, die auf der Basis der Mitleidsästhetik des 18. Jahrhunderts Peachums Kapital vermehren. Die Ansichten des Kapitalismus in der Dreigroschenoper sind durchgestylt, glatt und modern und vorbildlich in der Ausbeutung alter Gefühlsmuster. Sie gleichen der spiegelnden Oberfläche eines Gewässers, dem man nicht ansieht, dass sich Haifische in ihm tummeln.

Stellen wir die unsichtbaren Haifischgewässer des Fassadenkapitalismus neben den Kapitalismus der protestantischen Ethik, wie es die Dreigroschenoper tut, so fällt auf: Das System der kapitalistischen Gesellschaft dort ist von Wiedersprüchen gezeichnet: hier Neoliberalismus und kulturelle Fassade, die ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart verweisen, dort die Triebstruktur des puritanischen Unternehmertums des 19. Jahrhunderts.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Ernst Bloch hat in Erbschaft dieser Zeit die soziale Dynamik analysiert, die zum Untergang der Weimarer Republik und zum Aufstieg des Nationalsozialismus geführt hat.6 Die größte Sprengkraft gegen die Republik sah Bloch in der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Unterschiedliche politische Kräfte und soziale Bewegungen existieren dabei neben- und gegeneinander im Raum einer Gesellschaft und zur selben Zeit und scheinen doch unterschiedlichen Gesellschaftsformationen und Zeiten anzugehören. Die Spaßgesellschaft und Vergnügungskultur des modernen Konsum-Kapitalismus der angeblich “Goldenen Zwanziger Jahre” wird begleitet von politischen, psychosozialen und ökonomischen Bewegungen, die aus einer anderen, vormodernen, vordemokratischen, voraufgeklärten und voremanzipierten Zeit stammen und dahin zurückwollen. Dazu gehören u.a. die gesamte völkische Bewegung, die ehemaligen Frontsoldaten des Stahlhelms, einer paramilitärischen Organisation wie die SA, das durch die Inflation deklassierte Kleinbürgertum und die Kampforganisationen von KPD und NSDAP. Sie alle hassen die Republik und die Demokratie und wollen zurück in ein angeblich Goldenes Zeitalter einer homogenen, konfliktfreien und ethnisch reinen Gemeinschaft, (die Kommunisten in eine sozialistische Diktatur des Proletariats nach dem Vorbild der Sowjetunion). Das Goldenen Zeitalter dieser rückwärtsgewandten Utopien oder Retropien7 hat es nie gegeben. Weil aber die Retrotopien keinen wirklichen Boden unter den Füßen haben, sollen sie von den ungleichzeitigen Bewegungen mit umso stärkeren Gefühlen und voller Hass auf die bestehende Ordnung imaginär realisiert werden.

Die Anhänger*innen der ungleichzeitigen Bewegungen verfochten ein Gefühlsleben, das sich einerseits durch die Härte von Gehorsam und Pflichterfüllung, andererseits durch eine sentimentale Liebe zu den Altvorderen, zu Heimat und Herkommen auszeichnete.  Vor allem aber hingen sie einer restriktiven Sexualmoral an, in der Frauen eigene sexuelle Wünsche und Freiheiten abgesprochen wurden. Der Kontrast zur (auch) sexuellen Freizügigkeit der Spaß und Vergnügungskultur der angeblich Goldenen Zwanziger Jahre könnte nicht größer sein. Und groß ist auch die Spannung zwischen diesen beiden nebeneinander gleichzeitig-ungleichzeitigen Lebensformen.

Keine zwei Monate nach der Uraufführung der Dreigroschenoper findet im Metropoltheater, heute dem Ort der Komischen Oper, die Premiere von Franz Lehárs Operette Friederike statt, in der es um die Liebe des jungen Goethe zu Friederike Brilon in Sesenheim geht. Richard Tauber als Goethe schmalzt: “Oh Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich” und verdrückt sich dann nach Weimar, um Karriere am Hof zu machen. Und Friederike, gespielt von Käthe Dorsch, verzichtet unter Tränen und opfert ihre Liebe für den Aufstieg des Genies, ganz wie es einer Frau aus früheren Zeiten allein zusteht.

Ganz im Gegensatz zur entsagungsvoll schmachtenden Friederike steht das freizügige Liebes- und Geschäftsgebaren einer anderen jungen Frau, die die amerikanische Autorin Anita Loos 1926 in ihrem Roman Blondinen bevorzugt um die Welt schickt. Die Blondine legt auf ihrem Trip durch Old Europe die Männer, so vermögend, reihenweise flach und lässt sich ihr Entgegenkommen in Diamanten bezahlen. Der Roman wurde ein Welterfolg, die Blondine ein Idol der Anhänger:innen des konsumkapitalistischen Vergnügens. 1953 wurde das Buch von Howard Hawks verfilmt mit Marylin Monroes und Jane Russell in den Hauptrollen.

Idole wie diese waren den aus der Zeit gefallenen reaktionären Bewegungen verhasst. Ein Hass der sich rasch ausbreitete. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Weimarer Republik bietet gefährlichen politischen Sprengstoff. Wobei der Hass der Ungleichzeitigen nicht aus der Vergangenheit stammt, sondern aus der gleichzeitigen Gegenwart. Weil diese nicht beherrsch- und handelbar erscheint, versetzt man sich imaginativ und im historischen Kostüm der deutschen Frau und des soldatischen Mannes zurück in frühere Zeiten, in denen ein Leben auf Kommando angeblich noch einfacher in den Griff zu bekommen war.

Wiederholung und Überschreitung

Auch Brecht greift in seinem Verfahren der Historisierung des Hier und Jetzt auf Geschichte zurück. Allerdings nicht, um sich in vormals angeblich guten alten Zeiten einzurichten, sondern um die Gegenwart in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit erfahrbar zu machen. Mit Bedacht versetzt Brecht daher die Bearbeitung der Beggar’s Opera von John Gay mit der Musik von Johann Christoph Pepusch aus dem Jahr 1728 eineinhalb Jahrhunderte später in das viktorianische Zeitalter. Und ebenso überlegt greift er nach dieser Ballad Opera aus dem 18. Jahrhundert, von der Elisabeth Hauptmann, nach deren neuerlichem Erfolg in London, eine Rohübersetzung angefertigt hat. Nimmt man noch Form, Duktus und manchmal die wörtliche Übersetzung der Verse des spätmittelalterlichen Vagantendichters François Villon hinzu und die Musik des zeitgenössischen Komponisten Kurt Weill, dann hat man eine historische Konstellation zusammen, in der nichts an seinem ursprünglichen historischen Ort verbleibt, sondern in der frühere Zeiten und Räume in Form des Zitats von literarischen und musikalischen Gesten wieder(ge)holt werden. In diesem Aggregatzustand verlieren die Ansichten, Haltungen und Gefühle von einst ihre Geltung und suchen die Gegenwart von Neoliberalismus und kapitalistischer Fassadenkultur heim als Gespenst. So hat es Adorno 1929 am Beispiel des Liebesduetts von Polly und Macheath beschrieben8, einem langsamen Walzer, der haarscharf, aber genau an der Operettenseligkeit des 19. Jahrhunderts vorbeischrammt und mitten im Liebesschwulst die tiefe Angst in der bürgerlichen Gemütlichkeit freigibt, was “(w)enn die Liebe aus ist und im Dreck du verreckst,” wie es im Anstatt-Dass-Song heißt Brecht und Weills bruchstückhafter Zusammenfügung von musikalischen und sprachlichen Gefühlsklischees und Triebbildern von 1880 oder 1890 wird die Urgeschichte der Gefühle und Triebe im Kapitalismus in ihrer Falschheit wie in ihrer dämonischen Getriebenheit ausgestellt. Sie suchen die Gegenwart immer noch heim, die von 1928 – wie in Lehárs Friederike – ebenso wie die unsere. Sie suchen sie deshalb heim, weil die repressive Entsublimierung, von der Herbert Marcuse gesprochen hat,9 die Spaßgesellschaft und Konsumkapitalismus betreiben, kein Heilmittel gegen die Gespenster ist, sondern eine emotionale Leere hinterlässt, in der diese sich ausbreiten mit dem Wunsch nach Rückkehr zu Zeiten, in denen vermeintlich noch emotionale Zucht und Ordnung geherrscht haben. Die fundamentalistischen und populistischen Bewegungen unserer Tage zehren von der Wiederanrufung der gespenstischen Gefühlswelten und Triebökonomien der Vergangenheit, die sie als die ursprünglichen, eigentlichen und einzig und zeitlos wahren ausgeben. In der Urgeschichte der Gefühle und Triebenergien im Kapitalismus, die die Dreigroschenoper auf- und vorführt, zerfallen die falschen Hoffnungen und Versprechen, die sich an die Wiederkehr des Vergangenen knüpfen, zu Moder und Staub.

Brechts Verfahren der Historisierung der Gegenwart durch die Wiederholung vergangener Gefühlswelten, sozialen Haltungen und Verhaltensmuster zielt nicht auf die Rekonstruktion des angeblich so und nicht anders Gewesenen, sondern auf die Überschreitung der Einstellungen und Sichtweisen in der Gegenwart. Gerade indem die Wiederholung die Identität des Wiederholten verfehlt, erweitert sie den Erwartungshorizont, den die Gegenwart an die Wiederholung knüpft, um das Unerwartete und Unbekannte. Durch diese Überschreitung des Erwartungshorizonts der Gegenwart bereitet sie dem Utopischen eine Bahn. Darunter ist nicht ein ausgemaltes Wunschbild zu verstehen, sondern die Öffnung einer Perspektive der Transzendenz mitten im Bestehenden. Brecht begnügt sich nicht mit der abbildenden Kritik des schlechten Zustands der Welt, sondern lässt die nicht ausgeführte, aber vorhandene Möglichkeit eines Darüber-Hinaus erfahrbar werden. In diesem Sinn ist Adornos zusammenfassende Beschreibung der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny zu verstehen: “Mahagonny ist eine Darstellung der sozialen Welt in der wir leben, entworfen aus der Vogelperspektive einer real befreiten Gesellschaft.”10 Adornos These beweist auch in der Dreigroschenoper ihre Gültigkeit.

Vogelperspektive

Aus der Vogelperspektive einer befreiten Gesellschaft gesehen, von der Adorno spricht, entfaltet gerade die anachronistische (sprachliche und musikalische) Rhetorik der Gefühle in der Dreigroschenoper utopische Verweiskraft.  Das prominenteste Beispiel dafür ist die Ballade der Seeräuber-Jenny:

Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen
Und ich mache das Bett für jeden.
Und Sie geben mir einen Penny, und ich bedanke mich schnell
Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel
Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden.
Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen
Und man fragt, was ist das für ein Geschrei?
Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern
Und man sagt, was lächelt die dabei?

Und ein Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird liegen am Kai.

Die Seeräuber-Jenny tritt im Stück nicht auf, sondern ist eine inszenierte Figur im Vortrag von Polly Peachum, der frischgebackenen Frau Macheath. Polly hat mit dem Schankmädchen Jenny, das zu den Erniedrigten und Beleidigten gehört, nichts zu tun. Ihr Vortrag steht von Beginn an unter dem Vorbehalt einer Vorführung eines Menschen aus einer niedrigeren Klasse. Eine Vorführung im doppelten Sinn: Indem Polly die von Kitsch befeuerten Träume von einem Zeitalter rächender Piraten vorführt, führt sie diese arme Person vor, über die man sich vom Standpunkt einer jungen Frau aus Peachums bürgerlichem Hause nur lustig machen kann. Musikalisch extrem kitschig ist der Sextensprung in der Zeile “Und ein Schiff mit acht Segeln” vom “ein” auf das langgezogene “Schiff,” ein letzter Aufschwung von Hoffnung und der Seufzer einer hoffnungslos sentimentalen Natur. Weil aber die gesamte Ballade nicht dem Gesetz des Sentimentalen folgt, sondern das Sentimental-Kitschige nur ein musikalisches Zitat in einer Erzählung ist, die von einer rhythmisch schnellen und scharfen Figur zweier Sechzehntel auf dem betonten ersten Taktteil mit nachfolgendem Achtel auf dem unbetonten zweiten sowie mit Jazzbegleitung vorangetrieben wird, erhält der romantische Traum in seiner Hoffnungslosigkeit den Charakter einer musikalisch-sprachlichen Geste, die in die Gegenwart hineinragt, um in ihr etwas Unabgegoltenes geltend zu machen. Es ist etwas Zukunftsweisendes in diesem Kitschfetzen, der nicht mehr wie Lehárs Friederike behauptet, echt und wahr zu sein, sondern nur noch ein Fetzen ist, vielleicht aber ein Fetzen der acht Segel des Piratenschiffs, der für das Versprechen einer rächenden Gerechtigkeit in der Fortdauer des Unrechts einsteht:

Zu den Fetzen der Hoffnungssegel gehört auch, was von der puritanischen Reinheit und glatten Fassade des alten und neuen Kapitalismus hinter sich gelassen und ausgeschieden wurde: Dreck und Schmutz– man denke an den dreckigen Hemdkragen des Herrn, dem Polly sich schließlich hingibt – sowie das Obszöne, umstandslos Sexuelle und unmaskiert Gewalttätige. Es ist der plebejische Diskurs des François Villon im Stück, der den Abfall der Zivilisation wieder in die Dreigroschenoper einbringt. Seine eindringlichste Ausprägung hat er in Brechts Adaption von Villons Ballade de la grosse Margot, der Ballade von Villon und der dicken Margot gefunden. Daraus ist in der Dreigroschenoper die Zuhälterballade zwischen Mac und Jenny geworden. Erinnert wird darin an eine “Zeit, die längst vergangen ist”, und die angeblich “noch nicht ganz so trüb wie jetzt war,” eine Zeit, an die sich die Musik heranschleicht im Rhythmus eines einschmeichelnden Tangos, ehe das Gemisch aus unverblümter Sexualität, Gewalt und Ausbeutung in scharfen Punktierungen Fahrt aufnimmt. Jenny: “Da wurd ich aber tückisch, ja, na weißte!/ Ich fragt ihn manchmal direkt, was er sich erdreiste/ Da hat er mir aber eins ins Zahnfleisch gelangt/ Da bin ich manchmal direkt drauf erkrankt.” Die gewaltsame Direktheit, die auch vor Körpergrenzen nicht Halt macht (“ins Zahnfleisch gelangt”) bei gleichzeitiger intimer Vertrautheit, in der das Prostitutionsverhältnis geregelt wird, durchschlagen die Fassade der bürgerlichen Wohlanständigkeit ebenso wie die der Verklärung angeblich früherer besserer Zeiten, in denen man noch harmonisch zusammenlebte. Und rettet doch einen Fetzen an Kraft und Energie, die sich nicht scheren um protestantische Ethik, Triebverzicht oder sekundäre Lust über den Konsum.

Nicht der kleinste Fetzen eines Segels, das in Richtung Utopie gestellt ist, knüpft sich schließlich an die Feier des endlichen Lebens bei Brecht, die die Gedichte der Hauspostille, aber auch Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Die Dreigroschenoper durchzieht wie ein Festzug der Verlorenen. “Lasst Euch nicht verführen/ Zu Fron und Ausgezehr!/ Was kann Euch Angst noch rühren?/ Ihr sterbt mit allen Tieren/ Und es kommt nichts nachher”, endet das letzte Gedicht der Hauspostille “Gegen Verführung.” Dem entsprechend heißt es im Gedicht “Großer Dankchoral” zum Schluss: “Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben/ Schauet hinan/ Es kommt nicht auf Euch an/ Und ihr könnt unbesorgt sterben.”

Gepriesen wird hier eine Kraft, die aus der Verweigerung des Aufschubs aller Genüsse und Freuden auf ein späteres, erhofft besseres Leben stammt und von der Annahme des endlichen Lebens unter der Devise “Endlich leben” rührt. In Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ebenso wie in der Dreigroschenoper manifestiert sich diese Devise an der Verfallszeit der Liebe. Im Liebesduett in Mahagonny “Sieh jene Kraniche in hohem Bogen“ zwischen Paul Ackermann und Jenny mitten im Stoßbetrieb des Bordells heißt es zum Schluss: “Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?/ Seit kurzem/ Und wann werden sie sich trennen?/ Bald/ So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.“ In der Dreigroschenoper endet das Liebesduett von Polly und Mac unmittelbar nach dem sehnsuchtsvollsten Verweilen auf dem Wort Liebe mit der lakonischen Feststellung “Die Liebe dauert oder dauert nicht/ An dem oder jenem Ort.” In beiden Duetten wird die Trauer über das Vorübergehende der Liebe aufgewogen durch die Ankündigung eines Glücks, das ohne die Last eines dauerhaften Bindungsgebots im gelebten Augenblick Erfüllung findet.

Die Erinnerungen an das Flüchtige, Vergängliche und Endliche, die in Brechts Texte eingesprengt sind, entfalten dort eine a-ideologische Kraft. Ideologien behaupten überzeitliche Dauer und generelle Geltung. Die Einsprengsel des “Endlich leben!” entziehen dieser Behauptung den Boden. Zukunft beginnt, wenn die Versprechungen der Ideologien am Ende sind. In diesem Sinn bedeutet es Hoffnung, wenn der Chor in Mahagonny in einem von kräftigen Schlägen markierten Trauermarsch zum Schluss bekennt: “Können uns und euch und niemand helfen.”

Die Dreigroschenoper endet mit der Kontrafaktur eines Chorals im Stil von Händel:

Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr, in Bälde
Erfriert es schon von selbst, denn es ist kalt.
Bedenkt das Dunkel und die große Kälte
In diesem Tale, das von Jammer schallt.

Angesichts einer Gesellschaftsordnung, die im Ganzen ungerecht ist, fällt es schwer, im Einzelfall zu sagen, wer oder was gerecht oder ungerecht ist, denn “die getreten werden treten wieder,” wie Peachum sagt. Gerechte wie Ungerechte umfassend bleibt die “große Kälte.” Sie kommt nicht von der Endlichkeit des Lebens, sondern von einem System, in dem sich die Menschen wie Polly singt “kalt und herzlos” machen, bis die Erde zu einem biblischen Tal wird, “das von Jammer schallt.” Die Auskältung aller Gefühle, den Kältetod des Fühlens und Mitfühlens, die Menschen sich und anderen damit antun, spricht die Dreigroschenoper aus. Im Aussprechen erfährt sie, über die Welt wie sie ist hinausgehend, das Vorgefühl einer “real befreiten Gesellschaft.”11


[1] Der Text geht auf einen Vortrag auf dem virtuellen Symposium des Berliner Ensembles “Alte Einsichten über den neuen Kapitalismus“ am 16. April 2021 zurück. Um den Charakter des Vortrags zu erhalten, habe ich die Nachweise auf das Wesentliche beschränkt.

[2] Zum Amerikanismus als kultureller Lebensform in den 1920er Jahren siehe Lethen, Helmut: Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des “weissen Sozialismus,” Stuttgart 1970.

[3] Kracauer, Siegfried: “Die Angestellten”, in: S.K.: Schriften I Soziologie als Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1971, S. 205–304.

[4] Weber, Max: “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus”, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 20 (1904), S. 1–54, und 21 (1905), S. 1–110.

[5] Siehe dazu den Beitrag von Micha Braun in dieser Ausgabe von e_cibs.

[6] Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit (1935), Frankfurt a.M.  1981.

[7] Siehe Baumann, Zygmunt: Retrotopia, Frankfurt a.M. 2017.

[8] Adorno, Theodor W.: “Zur Dreigroschenoper” (1929), in: T.W.A.: Gesammelte Schriften, Bd. 18: Musikalische Schriften V, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1984, S. 535–540.

[9] Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1965.

[10] Adorno, Theodor W.: “[Mahagonny],” in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 115–122, hier S. 120.

[11] Ebd.

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Andreas Englhart (LMU München)
Spuren Brechts im deutschsprachigen Theater der Gegenwart

Abstract:

Brecht has been back on the stages of German-speaking theater at least since 9/11 and the financial crisis. What is overlooked though is the fact that Brecht, directly and indirectly, consciously and unconsciously, shapes the general aesthetics of German-language contemporary theater. Making political theater as well as making theater political and both dramatic and post-dramatic theater can be traced back to his epic theater. Brecht is also usually, if often unconsciously, involved in the practice of acting, for the dialectical difference between role and actor is a matter of course in German-speaking advanced theater, even if it is expressed in different aesthetic ways. Brecht is currently motivating younger theater makers to be socially critical and politically revolutionary again in the theater, for example in the theater’s engagement against climate change.

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Brecht ist wieder hochaktuell! Im Vergleich zu den 1990er Jahren, nach dem 11. September 2001 und erst recht nach der Finanzkrise 2007, wurden Ironie und allgemeine Relativierungen durch eine neue Ernsthaftigkeit auch im Theater abgelöst. Die Postmoderne scheint sich weitgehend im Prozess ihrer Historisierung pragmatisch einzurichten, während ihre Errungenschaften wie die Dekonstruktion von Stereotypen und der Entzug von Normalitätserwartungen glücklicherweise ein Stück weit selbstverständlich geworden sind. Eine wie auch immer sich ausprägende ‚Brechtrenaissance‘ in den Spielplänen verdeckt jedoch, dass – so meine These – Brecht grundsätzlich die Basis des deutschsprachigen Gegenwartstheaters, sowohl in den Inszenierungen als auch in den Theatertexten wie auch im Schauspielen, immer war und ist. Ältere und jüngere Vertreter des aktuellen Regietheaters wie Anne Lenk, Christian Stückl, Dušan David Pařízek, Leonie Böhm, Michael Thalheimer, und Christopher Rüping arbeiten mit und in der Brechttradition.[1]

Leider scheint man sich das gar nicht mehr in allen Fällen bewusst zu sein. Brechts Einfluss ist auch heute noch so groß, dass er sowohl die Grundlage für ‚realistische‘ Inszenierungen wie die von Thomas Ostermeier als auch postdramatisch-dekonstruktivistische Theaterformen wie etwa Sebastian Hartmanns bildet. Er ist die Folie für den gegenwärtig nicht mehr ganz so aktuellen, eher untergründig schwelenden Streit um eine den unsicheren Verhältnissen adäquaten Dramaturgie: Soll politisches Theater oder soll Theater politisch gemacht werden? Soll auf der einen Seite mit mehr oder weniger ‚realistischem‘ Rollenspiel wie in den Überschreibungen von Simon Stone – man denke an seine „Drei Schwestern“ (Theater Basel 2016) oder auch in Anne Lenks „Maria Stuart“ (Deutsches Theater Berlin 2020) – oder soll auf der anderen Seite in der Präsenz der Performer*in, wie aktuell in „Show Me A Good Time” (U.a. Schlachthaus Theater Bern 2021) von Gob Squad, inszeniert, (re-)präsentiert, produziert bzw. dekonstruiert werden? Wäre eine eher traditionell-dramatische oder eine nichtdramatische Struktur zu wählen? Ist politisches Theater heute eher in der Vermittlung von politisch wie gesellschaftlich relevanten und brisanten Themen in einer Konfliktdramaturgie – wie noch bei Stefan Pucher, Martin Kušej, Mateja Koležnik oder bei Falk Richter zumindest angedeutet – oder in der Unterbrechung von Bedeutungszuweisung bzw. in einem Theater als Ritual wie in Thom Luz’ Ästhetiken zu finden?[2]

Paradoxerweise können sich beide ästhetische Richtungen jeweils auf Brecht berufen. Wenn man den Konflikt sehr vereinfacht auf den Punkt bringen will, dann geht es darum, ob man den dialektischen Prozess in den Proben wie auch in der Rezeption der Inszenierung postmodern offen hält und darin eine Utopie im Entzug, in der unendlichen Semiose und im „Einbruch des Realen“ sieht oder ob man ihn im Dienste einer dramatisch-repräsentierenden Wiedergabe der aktuellen Machtverhältnisse in eine bestimmte Richtung ausrichtet, die wieder so etwas wie eine dramatisch vermittelte Utopie erlaubt. Idealerweise kombiniert man dramatische Konflikt- und Überschreitungsdramaturgien, wie etwa Dušan David Pařízek in „Die lächerliche Finsternis“ (Akademietheater Wien 2014) oder Christopher Rüping in „Dionysos Stadt“ (Münchner Kammerspiele 2018) oder aktuell in dessen „Einfach das Ende der Welt“ (Schauspielhaus Zürich 2020). Pařizek und Rüping bieten keine illusionäre Dramaturgie, die Brecht bekanntermaßen ablehnte; insbesondere der Naturalismus beschränke sich, so Brecht, auf Milieuschilderungen, ahme nur die soziale Realität nach. Das ist eine der vielen Gründe – neben Theaterreform oder (Neo-)Avantgarde etwa –, wieso Mimesis und Repräsentation heute so einen schlechten Ruf im Gegenwartstheater haben und man zum Beispiel die Stücke von Yasmina Reza, Juli Zeh oder Lutz Hübner gerne als Trivialdramatik abtut.

Für Brecht, wie bekannt, verkörpere episches Theaters in der Nachahmung nicht, sondern erzähle; jede Szene stehe für sich und nicht für eine abzubildende Wirklichkeit; die Handlung verlaufe nicht im aristotelischen Sinne dramatisch kausal bzw. linear (BFA 24). Auch im Schauspielen orientiere man sich nicht an der Stanislawskischule, insbesondere nicht am Film Acting nach Michael Tschechow, Lee Strasberg oder Stella Adler. In seinem Traktat zur Straßenszene aus dem Jahre 1940 explizierte Brecht seine Vorstellung einer zeitgemäßen Schauspielästhetik: In ihr sollten die Protagonist*innen wie bei der Beschreibung eines Unfalls durch Passanten nur so viel andeuten, dass sich diejenigen, die nicht dabei waren und denen hier gestisch etwas angezeigt wurde, ein Bild machen können (BFA 22.1, 370–381). Wenn man Fabian Hinrichs sich in René Polleschs „Ich schaue dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“ (Volksbühne Berlin 2010) ausagieren sieht, erahnt man, wie Spielen für Brecht heute aussehen könnte.  Mit der forcierten Vermeidung einer einfühlenden Illusion strebte Brecht einen eigenen ‚Realismus‘ an, der in der Nachahmung des menschlichen Verhaltens den sozialen Hintergrund nicht ausspart. Das auf der Bühne Gespielte durfte seinen Zeichencharakter in keinem Moment verleugnen – eigentlich eine Theaterroutine heute, man denke nur an die theatralen Installationen Susanne Kennedys oder an die kreativen Ausdeutungen Antú Romero Nunes.

Die immer sichtbar bleibende Differenz zwischen gespielter Realität und Bühnenrealität arbeitete dem von Brecht geforderten Akt der Verfremdung zu. Damit wurde eine gesellschaftliche Situation auf der Bühne wie in einem wissenschaftlichen Experiment untersucht und als grundsätzlich veränderbar begriffen. Vermieden werden sollte, dass die theatrale wie die gesellschaftliche Situation als ewig bestehende anthropologische Konstante gesehen wird, heute würden wir von aufzulösenden Fluchtpunkten in einer grundsätzlich anzulehnenden Metaphysik der Substanz sprechen. In diesem Sinne spielt Sandra Hüller bei Johann Simons einen furiosen „Hamlet“ (Schauspielhaus Bochum 2019), ohne das dies weiter auffallen würde. Die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Strukturen sollten als Konstruktion verstanden werden, daran knüpfen performative Ansätze wie von Judith Butler und Gender Performances, aber eben auch dramatisches Theater wie Ostermeiers oder Simon Stones an. Ostermeiers „Volksfeind“ (Schaubühne Berlin 2012) wird so, ohne das erzählende dramatische Gerüst zu verlassen, eine experimentelle Folie, auf der in jedem Land, in das man auf Tournee kommt, in jeder lokalen politischen Struktur das immer gleiche Spiel von Idealismus, Opportunismus, Macht und Wirtschaftsinteressen diskutiert werden kann. Das vereint wohl einen bedeutenden Teil des avancierten Gegenwartstheaters mit Brecht: Ein*e Zuschauer*in sollte sich nicht einfühlen, sondern eine distanziert-reflektierende Haltung einnehmen. Damit die Rollenfigur nicht zu sehr zur Einfühlung einlud, hatten für Brecht die Schauspieler*innen ihre Rolle mehr zu erzählen als illusionistisch zu spielen.

Das hatte auch Folgen für die Arbeit der Regisseur*in, oder, wie ihn Brecht 1939 nannte, des Probenleiters. Die Regie solle induktiv, nicht deduktiv vorgehen. Im Produktionsprozess, insbesondere in der Probe gehe es darum, „die staunende Haltung der Schauspieler“ zu „organisieren“ (BFA 22.1, 598) und die Produktivität aller Beteiligten „zu wecken“. Der Probenleiter solle keinesfalls „mit einer ‚Idee‘, oder ‚Vision‘, einem ‚Plan der Stellungen‘ und einer ‚fertigen Dekoration‘“ ins Theater kommen (ibid., 597). Das kannten wir schon von Peter Zadek, das beobachten wir weiterhin bei Leonie Böhm. Die Probe soll, so Brecht, zum Ausprobieren werden, es sollen immer viele Perspektiven eröffnet, mehrere Möglichkeiten des Spielens erprobt werden. Dies müsse dialektisch zu einer Anreicherung der Inszenierung in der Aufführung führen, anarchisch radikalisiert wäre es heute die Grundlage der Arbeiten von Frank Castorf oder Christoph Marthaler, postmodern offen gehalten in der Dekonstruktion bzw. im Diskurstheater René Polleschs. Für Brecht müsse der Regisseur „Krisen entfesseln“, der Probenleiter müsse zugeben, dass er „nicht immer ‚die‘ Lösung weiß und parat hat“. Seine Autorität beruhe eher darauf, dass man ihm zutraue, herauszufinden, „was keine Lösung ist“ (ibid., S. 597). Da die Schauspieler meist den schnellen Effekt bzw. Rollenzugriff suchen würden, hätte die Regisseur*in ständig Fragen, Hindernisse, Anlässe zum Zweifel beizusteuern. Die Regisseur*in müsse erreichen, dass sich die Schauspieler*innen oder die sonstigen Beteiligten fragen: „‚warum sage ich das? und warum sagt dieser das?‘ Er muss sogar erreichen, daß sie sagen: ‚ich (oder diese) könnte doch besser dies oder das sagen‘“ (ibid., S. 598). „Das anfängliche Stutzen und Widersprechen, wenn eine bestimmte Antwort erzielt wurde“, solle, so Brecht, „nicht ganz aus der Gestaltung“ verschwinden „beim weiteren Verlauf der Proben“. Damit auch der Zuschauer „Gelegenheit zu diesem Stutzen und Widersprechen“ habe, sollen die Krisen, Widerstände, Fehler, Korrekturen sowie Einwände in der Aufführung sicht- und spürbar bleiben: „Der Zuschauer soll die ‚Lösung‘ als eine besondere, aber das gewisse Zufällige noch enthaltende sehen, das ja in Wirklichkeit ihr anhaftet“ (ibid.).

She She Pops „Sieben Schwestern“ (HAU 2 Berlin 2010) tragen in diesem Sinne die aktuellen Ungeschicklichkeiten der Performer*innen in die Begegnung mit den tschechowschen Figuren. Beispielgebend hierfür wären für mich auch die letzten Arbeiten von Leonie Böhm und Sebastian Hartmann. Böhm versucht in ihrer „Medea“, nach(!) Euripides, theatral und in nicht nur behaupteter Kooperation mit der Schauspielerin Maja Beckmann und dem Musiker Johannes Rieder, den emotionalen Kern, das komplexe Innenleben der Figur Medea zu erkunden (Schauspielhaus Zürich 2020). Hartmann bricht mit seinen Schauspieler*innen den typisch deutschen Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann assoziierend auf (Deutsches Theater Berlin 2020), um die Krise vor dem ersten Weltkrieg gewinnbringend auf die Krise vor dem drohenden Klimawandel zu übertragen. Die Verantwortung für die am Abend gespielten Textfragmente werden zu einem unüblichen großen Teil an die Schauspieler*innen übertragen, die Krise in der Gesellschaft wird als Krise im Spiel körperlich getragen und (mit) erfahrbar. Damit demonstrieren die Probenarbeiten bei Böhm und Hartmann die gelungene Übertragung einer Forderung Brechts: Die Montage der Inszenierungsarbeit solle nicht zum Ergebnis eines „nietenlose(n) Ineinanderschweißen(s) der Details“ führen, sondern „als eine logische Kette von Details, die noch Detailcharakter“ aufwiesen, erscheinen: „Gerade so kommt die Logik ihrer Aufeinanderfolge und ihres Ineinanderübergehens zur Geltung“ (BFA 22.1, 598).

Diese dialektische Praxis grundierte auch die dann nicht mehr dialektisch in der Synthese schließende Montage etwa im heutigen dokumentarischen Theater von Rimini Protokoll oder in den Doku-Mashups von Jan-Christoph Gockel bzw. Überschreibungen (wenn es denn welche sind) von Nicolas Stemann. Sogar das Weihnachtsmärchen kommt in Stemanns „Schneewittchen. Beauty Queen“ (Schauspielhaus Zürich 2019) nicht ohne ständige Überblendungen aus anderen Stücken auf die lebendige Bühne, nicht ohne Kommentare der selbstbewusst gewordenen Figuren, deren Verweigerung eines stereotypisierenden Auftritts als bekannte Märchenfigur. Geboten wird stattdessen der revolutionäre Gestus Schneewittchens, die sich weigert, den Zwergen oder irgendeinem Prinzen, schon gar nicht dem Theaterbetrieb zu Diensten zu sein. Und Gockels historisch-systematische Erkundungen der togolesisch-bayerischen Partnerschaft, „‚Wir Schwarzen müssen zusammenhalten‘ – Eine Erwiderung“ (so ein Originalzitat Franz Josef Strauß’ aus dem Jahr 1983), bricht Zeiten, Räume, Blickordnungen, Identitätszuweisungen so radikal an den kulturhistorischen Nähten auf, dass dahinter in der theatralen Recherche entlarvende strukturelle Ähnlichkeiten zwischen beiden, also den togolesischen und bayerischen, nur vordergründig verschiedenen Gesellschaftssystemen deutlich werden (Münchner Kammerspiele 2021).

Heute ist den meisten Zeitgenoss*innen Brecht vor allem durch seine Stücke und seine theoretischen Reflexionen bekannt. Nur: Machen wir uns vielleicht ein falsches Bild, wenn es um den Theatermacher und Regisseur Brecht geht? Die Brechtschauspielerin Regine Lutz behauptete, als sie in meinem Seminar zu Gast war, dass Brecht gar nicht brechtisch inszenierte, im Zweifel den auf Wirkung bedachten Theaterpraktiker dem dialektisch argumentierenden Theaterästhetiker vorzog. Wenn wir diese Aussage an den filmischen Aufzeichnungen des gerade 17-jährigen Hans Jürgen Syberberg 1953 im Berliner Ensemble überprüfen (meines Wissens nach das einzige filmischen Probendokument aus Brechts Lebenszeit), darin Teile von Proben und Aufführungen aus Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti sehen, in der Regine Lutz die Tochter Puntilas spielt, dann bemerken wir, dass etwa Curt Bois als Puntila in Kostüm an Chaplin erinnernd im Spiel mit dem Attaché ein prägnantes Beispiel für angewandte meyerholdsche Biomechanik präsentiert.[3] Aber: Im Vergleich zur Spielpraxis im Gegenwartstheater, etwa mit den Arbeiten von Susanne Kennedy, von Thom Luz, Karin Beier, Antú Romero Nunes, Florentina Holzinger, Doris Uhlich oder Anta Helena Recke wirkt Brecht 1953 doch erstaunlich konventionell. Wie man mit aller quellenkritischer Vorsicht den filmischen Zeugnissen Syberbergs entnehmen kann, bleibt die Handlung auch in der Inszenierung kausal nachvollziehbar, Ort und Zeit des Gespielten bleiben eindeutig erkennbar. Die Schauspieler*innen agieren jede*r für sich immer in der Rolle, ihr Spiel ist weiterhin figurencharakterisierend, die Abstraktion im Bühnenraum hält sich in einem beschränkten Rahmen, die szenische Kohärenz bleibt etwa im Vergleich zur Ästhetik René Polleschs, Sebastian Hartmanns, Leonie Böhms oder Nicolas Stemanns erhalten.

Nun: Sehen wir in Syberbergs Film den Brecht, den Brecht eigentlich wollte? Wahrscheinlich nicht. Auf die Frage: „Aber Sie arbeiten doch nicht mit eigentlichen Verfremdungen, wie Sie es in Ihrem ‚Kleinen Organon‘ anraten?“, antwortet Brecht: „Nein. Wir sind nicht weit genug“ (BFA 25, 430). Das Theater sei wie ein „Schwimmer, der nur so schnell schwimmen kann, wie es ihm die Strömung und seine Kräfte erlauben“ (ibid.). Um seine Ziele zu erreichen, müsste er „die Schauspieler völlig umschulen“. Bei ihnen wie beim Publikum würde es „einen ziemlich hohen Bewusstseinstand benötigen, Verständnis für Dialektik usw.“ (ibid.). Da sollte definitiv noch etwas wirklich Veränderndes kommen, sowohl auf ästhetischer wie auf politischer Ebene. Brecht: „Ich wollte auf das Theater den Satz anwenden, dass es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern“ (ibid., 401).

Zitiert wird hier bekanntermaßen die elfte These über Feuerbach von Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt; es kömmt drauf an sie zu verändern.“[4] Daran würde das Zentrum für politische Schönheit direkt anschließen, nichts sei so wirksam wie die Feststellung von Verantwortlichkeit und die performative Tat, auch wenn diese, wie in der Aktion „Flüchtlinge fressen“ (vor dem Maxim-Gorki-Theater Berlin 2016), höchst umstritten bleibt und die Frage provoziert, ob das überhaupt noch Theater wäre. Auch Milo Rau drängt uns wie in seinem „Neuen Evangelium“ (Theaterfilm 2020), das die knallharte Ausbeutung bzw. Sklavenarbeit von Geflüchteten in der südeuropäischen Landwirtschaft, deren Produkte wir alle essen, zeigt, in die reale Verantwortung für das reale Leid. In diesem Impulsvortrag kann ich auf beschränktem Raum kaum im Detail auf die vielfältigen Spuren von Brecht eingehen, nur noch mal betonen, dass Brecht direkt und indirekt, bewusst und unbewusst sowohl politisches Theatermachen wie auch das Theater politisch Machen im deutschsprachigen Gegenwartstheaters entscheidend mitbestimmt. Auch im Schauspielen hat sich Brecht auf breiter Ebene, auch hier oft unbewusst, eingetragen, stellt doch das Die-Rolle-neben-sich-Stellen im deutschsprachigen avancierten Theater eher den Normalfall dar, auch wenn es sich jeweils anders ästhetisch ausprägt.

Und wie halten wir es mit der Revolution oder zumindest mit realen gesellschaftlichen Transformationen? Auch wenn Brecht sowohl die ästhetische Basis in der Regie wie im Schauspielen der mehr oder weniger dramatischen oder performativen Theaterarbeiten von Böhm bis Stemann, Rüping bis Lenk, Gob Squad bis Pařízek bildet, bedeutet das noch lange nicht, dass sich etwas zum Positiven verändert – die passive Reaktion des Publikums auf Rüpings „Trommeln in der Nacht“ mit neuem revolutionären Ende (Münchner Kammerspiele 2017) bestätigt dies aufs Neue. Aber es scheint tatsächlich gegenwärtig einiges in Bewegung zu geraten. Brecht scheint heute einige Theatermacher*innen neu zu motivieren – so fordert und erwartet Milo Rau in seinem globalen Realismus die Revolution; wir seien, so Rau, in Europa alle satte und dekadente Adelige, die den kommenden Umsturz aus dem marginalisierten „Rest“ der Welt nicht kommen sehen.[5] Vor allem auf einer anderen, gegenwärtig aufgrund der Pandemie etwas in den Hintergrund gerückten Folie – der des Klimawandels – wird man, wie uns Alexander Eisenach und das „Theater des Anthropozän“[6] in ihrer Tragödie der Erde und der Menschheit in „Anthropos. Tyrann (Ödipus)“ zeigen (Volksbühne Berlin 2021), um radikale Veränderungen nicht herumkommen.

[1] NB: In einigen Passagen des Beitrages wurde auf den bereits veröffentlichten Text des Autors „Brecht als Regisseur im Theater der Gegenwart“, in: Der Deutschunterricht 6/15, S. 52–60 zurückgegriffen. Vgl. zur Aktualisierung und Bestimmung des Regietheaterbegriffs Andreas Englhart: Das Theater der Gegenwart, München 2013.

[2] Vgl. u.a. zu den ästhetischen Grundzügen einer postdramatischen Ästhetik Jean-Francois Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982; Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013.

[3] Hans Jürgen Syberberg: Syberberg filmt bei BRECHT, Berlin 1953/1970.

[4] Karl Marx: „Exzerpte und Notizen Sommer 1844 bis Anfang 1847“ (Notizbuch aus den Jahren 1844­–1847, 1) ad Feuerbach. In: Karl Marx/Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA), Vierte Abteilung, Bd. 3, Berlin 1998, S. 19–21, hier S. 21.

[5] Vgl. Milo Rau: Globaler Realismus, Berlin 2018.

[6] https://theater-des-anthropozän.de. Unter der Leitung von Frank Raddatz und Antje Boetius haben sich Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zusammengetan, um produktiv die Ursachen des Klimawandels aufzudecken und zum Engagement zu motivieren.

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Florian Vaßen
Brecht Material – Material Brecht

Abstract:

This essay examines Bertolt Brecht”s theory of material value, based on three theses: Brecht uses world literature and a variety of philosophical and political theories and positions as material for his literary work and his theatrical practice; citation and montage are central aspects. With this approach, he simultaneously criticizes the “heritage” conception of socialist realism. Moreover, in a life-long working process, Brecht uses his own texts as material. A variety of drafts and text versions are the consequence, while fragments and fragmentarizations take on a special relevance in his process of “self-understanding.” Brecht’s texts and theatrical concepts ultimately also become material for other, mostly younger writers and theater-makers. Thus, he is a “momentous” classic and still has a great influence on contemporary theater, post-dramatic theater, and today’s contemporary director’s theater.

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Der Verwerter Brecht und sein Material

Der Titel “Brecht Material – Material Brecht” bezieht sich auf einen der zentralen Aspekte in Bertolt Brechts Arbeitsweise: Alles, was für die künstlerische Arbeit brauchbar ist, dient Brecht als Material – entsprechend seiner Theorie vom “Materialwert,” die eine radikale Haltung zur Historie und Tradition der Literatur und des Theaters beinhaltet.[1] Schon lange bevor er Ende der 1920er Jahre seine “Materialwert”-Theorie entwickelte,[2] benutzte Brecht fremde Texte aus Literatur, Philosophie und Gesellschaftstheorie wie einen “Steinbruch.” Respektlos, “ohne schädliche Ehrfurcht” (BFA 21, 289), “schnoddrig” (BFA 21, 288), wie er selbst formuliert, und vor allem “lax” “in Sachen des geistigen Eigentums” (BFA 21, 315) bricht er sich – durchaus mit Anstrengung und Überlegung – das Material aus der Weltliteratur heraus, das er verwenden kann.

Der Begriff Material hat, laut Duden, die Bedeutung “Rohstoff,” Arbeitsmittel, aber auch “[schriftliche] Angaben, Unterlagen, Belege, Nachweise”; er ist etymologisch abgeleitet von spätlateinisch “materialia,” bezogen auf lateinisch “materia.”[3] In seinem szenisch-theoretischen Text Der Messingkauf erläutert Brecht sein radikales Verständnis vom Material mit Hilfe der Szene eines “Messinghändler[s] [, der] zu einer Musikkapelle kommt und nicht etwa eine Trompete, sondern bloß Messing kaufen möchte” (BFA 22.2, 778).[4] In Bezug auf das Theater stellt sich Brecht die Frage: “[Wie sollte man heute Klassiker spielen]” (BFA 21, 181) und findet die Antwort im Material-Begriff: “Wirklich brauchen davon konnte man nur mehr den Stoff. […] Was man zur Anordnung und zum Wirksammachen dieses Stoffes dann aber brauchte, das waren neue Gesichtspunkte. Und die konnte man nur aus der zeitgenössischen Produktion beziehen” (BFA 21, 182).

Kontrafaktur und Parodie, Gegenentwurf und Bearbeitung, die Erprobung und Vermischung von literarischen Formen, das Experimentieren mit “Anti-Formen,” z.B. bei der Oper oder den Lehrstücken, bestimmen dementsprechend Brechts Arbeitsweise. Besonders in seiner Dramen-Produktion ist er der große “Verwerter”[5]: anfangs François Villon und Arthur Rimbaud, Hanns Johst und Rudyard Kipling, Frank Wedekind und Karl Valentin, später Christopher Marlowe, John Gay, Komparu Zenchiku, Upton Sinclair, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe, schließlich Maxim Gorki, Titus Livius, John Millington Synge und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Hela Wuolijoki, Jaroslav Hašek und Nordahl Grieg, Jakob Michael Reinhold Lenz, William Shakespeare, Molière und George Farquhar.

Brecht verwendet darüber hinaus traditionelle asiatische und mittelalterliche Theaterformen, er knüpft an den antiken Chor ebenso an wie an wie an moderne Dramenstrukturen seit dem Sturm und Drang. Shakespeare ist das große Vorbild für das Theater, Luther für die Sprache und die Naturwissenschaftler Francis Bacon und Galileo Galilei für das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft,[6] für ein “Theater im wissenschaftlichen Zeitalter” (BFA 22.2, 695). Brechts programmatische Theaterschrift Kleines Organon für das Theater bezieht sich dementsprechend mit ihrem Titel explizit auf Bacons Novum Organum, und die dialogische Form des Messingkaufs, des anderen grundlegenden theatertheoretischen Textes, übernimmt Brecht aus den Discorsi von Galilei.

Trotz des Aufgreifens und Verwendens von Themen, Formen und Methoden, trotz intertextueller Bezüge und Korrespondenzen, z.B. zwischen Brechts Baal und Johsts Der Einsame, der Dreigroschenoper und Gays The Beggar’s Opera, dem Jasager und dem japanischen No-Spiel, Brechts Johanna-Stücken und Schiller, besteht in keiner Weise die Gefahr von Epigonalität. Alfred Kerr, einer der schärfsten Kritiker Brechts in der Weimarer Republik, nennt ihn zwar “ein[en] schäumende[n] Epigone[n],”[7] aber der ebenfalls sehr renommierte Kritiker Herbert Ihering hält zu Recht dagegen:

Die Produktivität eines Dichters erkennt man an seinem Verhältnis zu alten Stoffen. Werfel erfindet im “Schweiger” eine “nie dagewesene” Fabel – und ist doch in jedem Zug epigonenhaft. Brecht entzündet sich an Marlowes “Eduard II” – und ist doch in jedem Zug schöpferisch. Daran, wie ein Dichter Vorgänger übernimmt, wie er fremde Bestandteile einschmilzt, ja wie er geradezu die Probe der Anlehnung besteht, sieht man seine Selbständigkeit.[8]

Aus der Materialwert-Theorie folgt, dass die Zitation als intertextuelles Verfahren eine der wichtigsten Vorgehensweisen von Brecht ist. Entsprechend der Artefakt-Kritik von Friedrich Nietzsche betont er, dass es sinnvoll ist, “die Stücke als Rohmaterial [zu] verwenden”, d.h. “wegstreichen, Neues einfügen” (BFA 22.2, 708), und im Buch der Wendungen “empfiehlt er, “Sätze von” philosophischen “Systemen” “voneinander [zu] trennen,” “damit sie erkannt werden,” sie also aus dem Zusammenhang zu reißen und “sie einzeln der Wirklichkeit gegenüber[zu]stellen” (BFA 18, 95).

Um sich die fremden Texte anzueignen, muss er sie sich anverwandeln und einverleiben, muss sie sozusagen “fressen”; pointiert könnte Brecht als “Xenophage” bezeichnet werden.[9] Dazu muss er sie jedoch zerlegen, muss Teile “heraushacken” (BFA 23, 285), wie er selbst formuliert. In dem “Sonett zur Neuausgabe des Francois Villon” von 1930 heißt es wunderbar zweideutig in der letzten Zeile: “Ich selber hab mir was herausgenommen …” (BFA 14, 99), und in einem Brief an Alfred Döblin vom 28. September 1938 schreibt Brecht: “Ich halte ihre Werke für eine Fundgrube des Genusses und der Belehrung und hoffe, daß meine eigenen Arbeiten Funde daraus enthalten. Ich glaube, ich kann mich in keiner würdigeren Form als der des Exploiteurs [Hervorhebung – FV] bei Ihnen einstellen” (BFA 29, 112–113).

Gebrauchswert, handwerkliches Vorgehen und kollektives Arbeiten negieren jeglichen Geniekult und stellen die Autonomie des künstlerischen Subjekts in Frage, wie er besonders anschaulich in seiner Keuner-Geschichte “Herr Keuner und die Originalität” darlegt:

Heute, beklagte sich Herr Keuner, gibt es unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. (BFA 18, 18)

Brecht ist ein “Meister der Klebologie,”[10] er arbeitet bei der Herstellung seiner Typoskripte mit “Schere und Klebstoff,”[11] sodass sie “durch die vielen Schnittstellen und Überklebungen einen Objektcharakter” erhalten, durch den das verarbeitete Material und damit der “Entstehungsprozess sichtbar” bleibt.[12]

Bestimmendes Strukturmerkmal von Brechts Drama und Theater ist folglich die Montage des “erbeuteten” und “gefressenen” Materials.[13] Sie vor allem hat ihm von Seiten des dogmatischen sozialistischen Realismus den Vorwurf des “literarischen Formalismus” eingebracht, der – so Brecht spöttisch – “simpel von der décadence” abgleitet wird. “Die literarischen Avantgardisten sind dekadente Bourgeois, fertig. Man muß also von ihnen absehen und bei den Klassikern lernen. […] Die Montage etwa gilt als Kennzeichen der décadence. Weil durch sie die Einheit zerrissen wird, das Organische abstirbt!” (BFA 26, 328; kursiv im Original). Dementsprechend formuliert Brecht bitterböse und polemisch am 27. Juli 1938 in seinem Journal: “Die Moskauer Clique lobt jetzt Hays Stück ‘Haben’ über den roten Klee. Das ist echter sozialistischer Realismus. Neu, weil alt. Hier schuf ein Genie, unberührt von Moden und Wirren der Zeit. Was ist Form? Hier ist Inhalt. Das Stück ist ein trauriger Schund, Sudermann ist dagegen ein Fortschritt” (BFA 26, 316).

Der Material-Begriff steht demnach in deutlichem Widerspruch zur Erbe-Konzeption des sozialistischen Realismus. Brecht wählt nicht aus nach Kriterien der Klassenzugehörigkeit oder des Klassenkampfes, die Kategorien auf- und absteigende Gesellschaftsformationen bzw. sogenannte dekadente und progressive Literatur sind für ihn keine produktiven politischen oder ästhetischen Kategorien, wenn es darum geht, was aus der Literatur der vergangenen Jahrhunderte zu gebrauchen ist.

Gegen den Vorwurf von Georg Lukács und anderen, die “Techniken der Joyce und Döblin” seien “lediglich Verfallsprodukte,” verteidigt Brecht trotz kritischer Distanz zu “diesen Dokumenten der Ausweglosigkeit” ihre “wertvolle[n] hochentwickelte[n] technische[n] Elemente,” die da sind: “Innerer Monolog (Joyce), Stilwechsel (Joyce), Dissezierbarkeit der Elemente (Döblin, Dos Passos), assoziierende Schreibweise (Joyce, Döblin), Aktualitätenmontage (Dos Passos), Verfremdung (Kafka)” (BFA 22.2, 630; Hervorhebungen im Original). Kafka, mit dem er sich 1934 in Svendborg nochmals intensiv in Gesprächen mit Walter Benjamin auseinandersetzt, hält Brecht “für einen großen Schriftsteller,” bei dem “das Parabolische mit dem Visionären in Streit” liege und dessen “Genauigkeit” “die eines Ungenauen, Träumenden” sei; Brecht lobt den Prozeß, wie Benjamin schreibt, als “ein prophetisches Buch.”[14]

Am deutlichsten orientiert Brecht sich jedoch – trotz Kritik im Einzelnen – an Alfred Döblins Konzeption einer epischen Schreibweise, insbesondere an seinem Roman Berlin Alexanderplatz, den er nach Fritz Sternbergs Auskunft mehrmals intensiv gelesen hat. In dem schon erwähnten Brief an Döblin betont Brecht ausdrücklich den “Fleiß,” “mit dem er” dessen “literarische Werke studiert und sich die vielfachen Neuerungen, die […] (Döblin) in die Betrachtungs- und Beschreibungsweise […] (der) Umwelt und des Zusammenlebens der Menschen eingebracht” hat, “zu eigen gemacht” hat. Brecht lobt explizit Döblins “bahnbrechende[ ] Beschreibungstechnik,” seine “völlig neuartige[n] Gesichtspunkte” und besonders die “Theorie von der Autonomie der Teile” (BFA 29, 112).

Auffällig ist, dass Brecht sich in der Regel nicht nur auf einen Bezugstext konzentriert, sich nicht monokausal an einem Autor orientiert, im Gegenteil, die Verwendung, Zitation und Montage, von sehr unterschiedlichen Prätexten ist charakteristisch für seine Arbeit. Bestes Beispiel ist schon das frühe Theaterstück Baal, das zwar als Gegenentwurf zu Hanns Johsts idealistischem, pseudosakralen Drama Der Einsame konzipiert ist, zugleich aber in einem engen intertextuellen Bezug zu Villon, Rimbaud und Verlaine, zum Alten Testament sowie zu Nietzsche und Wedekind steht. Trotz großem Interesse an Diderot ist Brecht kein Aufklärer und den Symbolisten und Surrealisten steht er, wie Walter Benjamin belegt, ambivalent gegenüber. Brecht ist auch kein Hegel-Schüler und kein Nietzsche-Adept – schon 1916 betont er, “daß er Nietzsche nicht mehr mag, während er sich für Spinoza begeistert.”[15] Mit seiner Kritik an der Verelendungstheorie und seinem Ansatz beim hedonistischen “Glücksverlangen” (BFA 23, 242) ist er auch kein dogmatischer “Marxist.”

Seit seinen frühen Texten, vor allem dem Baal, betont Brecht Gebrauchen und Verbrauchen als Genuss, auch die Theorie des Materialwerts gehört in den Kontext der Konsumption. Rückblickend sieht er in Baal zwar “den Untergang eines nur Genießenden in der schließlichen Unfähigkeit zum Genuß […]” (BFA 22.1, 264), aber 1953 bei der Beschäftigung mit der Oper Die Reisen des Glücksgotts betont er gleichwohl: “Es ist unmöglich, das Glücksverlangen des Menschen ganz zu töten” (BFA 23, 242; Hervorhebung im Original). Wirkliche Potentialität sieht Brecht in der Verbindung von Konsumption und Produktion, im ästhetischen Bereich sich manifestierend in dem Gebrauchen von Material und dessen Verarbeitung im literarischen und theatralen Arbeitsprozess. Das individuelle Glücksstreben soll in einen kollektiven Produktionsprozess eingebettet werden und könnte so eine soziale Dimension erhalten.[16] Gleichwohl besteht auch für Brecht vor allem in seinen Texten zu Baal und im Fatzer der immanente Widerspruch vom “[S]treben nach dem Glück,” dem “Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt,”[17] und den “sozialen Beziehungen” sowie der Kultur als Gegengewicht zur “Willkür des Einzelnen” und seinen “Interessen und Triebregungen,” wie Freud es in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur dargelegt hat: “Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt.”[18]

Brechts Arbeit mit dem gesammelten “Rohmaterial” basiert auf seiner “großen Leidenschaft des Produzierens” (BFA 23, 73) “im weitesten Sinne,” wozu etwa auch die “Liebe,” “Schachzüge” oder “Spiele” (BFA 26, 468) gehören,[19] es besteht also ein besonders intensives Verhältnis von Konsumption und Produktion von Material. Diese Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit beschreibt Heiner Müller treffend als “Materialschlacht Brecht gegen Brecht.”[20]

Brechts Eigenmaterial und “Selbstverständigung”

Viele Schriftsteller bearbeiten bekanntlich immer wieder und über einen längeren Zeitraum ihre Texte, aber keiner, so meine zweite These, macht das so intensiv und so extensiv wie Bertolt Brecht. Seine Texte sind nie fertig, das von ihm zu Papier Gebrachte dient ihm grundsätzlich als Material für seine weitere literarische Arbeit bzw. für seine Theaterpraxis. Es geht also zum einen um verschiedene Text-Fassungen sowie mediale Variationen und zum anderen um das Verhältnis von Literatur und Theater, gerade auch bei der Lehrstück-Konzeption.

Für die lebenslange Beschäftigung mit einem ästhetischen und thematischen Material ist erneut Brechts Baal ein besonders prägnantes Beispiel: Die erste Fassung des Baal datiert von 1918, die zweite von 1919, 1920 kommt eine Buchpublikation nicht zustande, die erste Veröffentlichung von 1922 im Kiepenheuer Verlag kritisiert Brecht als zu “glatt” (BFA 26, 129). 1926 entsteht mit Lebenslauf des Mannes Baal unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit eine neue, deutlich veränderte Fassung, in der Baal aus der Natur in die Großstadt geht und dort als Monteur arbeitet. 1929/30 experimentiert Brecht unter dem Titel Der böse Baal der asoziale mit kleinen Lehrstücken und 1955 stellt er schließlich eine letzte Fassung her. Zuvor schreibt er 1953 rückblickend in dem Aufsatz “Bei Durchsicht meiner ersten Stücke” im Kontext der Fragment gebliebenen Oper Die Reisen des Glücksgotts: “Zwanzig Jahre nach der Niederschrift des ‘Baal’ bewegte mich ein Stoff (für eine Oper), der wieder mit dem Grundgedanken des ‘Baal’ zu tun hatte” (BFA 23, 241). Auch von vielen anderen Brecht-Texten gibt es mehrere Entwürfe und unterschiedliche Fassungen, von der Maßnahme z.B. fünf,[21] vom Leben des Galilei, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, kennen wir drei Fassungen, eine frühe von 1938/39, die amerikanische von 1947 und schließlich eine letzte von 1955/57 (vgl. BFA 5, 7–289).

Beim Dreigroschen-Komplex finden wir eine andere Art der Material-Verwertung in Form medialer Vielfalt: Auf die Dreigroschenoper von 1928 folgt 1930 das Filmexposé Die Beule, aus dem für Brecht gescheiterten Filmprojekts des Dreigroschenfilms (1930/31) entsteht 1932 Der Dreigroschenprozess als Ein soziologisches Experiment. Hinzu kommt 1933/34 im Exil der Dreigroschenroman, der in seiner Montageform eine Vielzahl von sichtbaren, kursiv gesetzten Zitaten enthält. Ergänzt man noch die große Anzahl von sehr unterschiedlichen Schallplatten mit den Songs der Dreigroschenoper sowie Brechts im Kontext der Dreigroschenoper veröffentlichte theoretische Überlegungen zum epischen Theater, vor allem zur “Literarisierung” (BFA 24, 58) und zur “Trennung der Elemente” (BFA 22, 156), dann wird eine vielgestaltige und heterogene mediale Materialverarbeitung sichtbar.

Seinen Schreibprozess beschreibt Brecht als “Selbstverständigung,” wie es im Kontext des Fatzer, seinem umfangreichsten und wichtigsten Fragment, heißt:

das ganze stück, da ja unmöglich,
einfach zerschmeißen für experiment,
ohne realität!
zur “selbstverständigung[22]

Brecht will “das ganze stück” “zerschmeißen,” d.h. wie die Prätexte der Weltliteratur wird auch sein eigener Text, ein Konvolut von ca. 550 Seiten, “zerlegt,” sodass er ihn als “Rohmaterial” weiterverwenden bzw. neu zusammenstellen oder montieren kann. Der gesamte Arbeitsprozess dient vor allem zur “selbstverständigung” des Schreibenden. Das Wort Selbstverständigung hat Brecht in dieser handschriftlichen Notiz durch doppelte Unterstreichung hervorgehoben und zudem in Anführungsstriche gesetzt und damit als Zitat gekennzeichnet. Es ist zu vermuten, dass Brecht hier aus dem “Vorwort” Zur Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx zitiert, in dem es heißt: “Wir überließen das Manuskript (der Deutschen Ideologie ‒ F.V.) der nagenden Kritik der Mäuse um so williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten – Selbstverständigung.”[23]

In diesem Zusammenhang steht auch die Diskussion um Fragment und Fragmentarisierung,[24] also die Frage nach dem Scheitern eines Arbeitsprozesses, respektive nach dem Status eines Entwurfs oder einer unfertigen Fassung, weiterhin die Erprobung eines Textes und die bewusste Fragmentarisierung, entsprechend eben dieser Arbeitsweise der “Selbstverständigung”[25] bei Fatzer oder gemäß Heiner Müllers Überlegungen zum “synthetischen Fragment.”[26] In einem Brief an Helene Weigel erwähnt Brecht 1928 seinen Urfatzer (BFA 28, 312) und stellt damit sicherlich eine Verbindung zu Goethes Urfaust her, der neben Kleists Guiskard und Büchners Wozzeck – so Brecht – “zu einer eigentümlichen Gattung von Fragmenten […] gehört, […] die nicht unvollkommen, sondern Meisterwerke sind, hingeworfen in einer wunderbaren Skizzenform” (BFA 24, 431–432). Heiner Müller greift diesen Vergleich der beiden Theatertexte auf: Das “Fatzermaterial” ist “Brechts größte[r] Entwurf und einzige[r] Text, in dem er (Brecht) sich, wie Goethe mit dem Fauststoff, die Freiheit des Experiments herausnahm, Freiheit vom Zwang zur Vollendung […]. Ein inkommensurables Produkt, geschrieben zur Selbstverständigung.”[27]

Die Differenz zwischen der Schreib- und der Anwendungsebene hat Brecht im Kontext der Lehrstück-Theorie besonders deutlich angesprochen: Unter dem Titel “Ftzdok,” also Fatzerdokument, heißt es:

Der Zweck, wofür eine Arbeit gemacht wird, ist nicht mit jenem Zweck identisch, zu dem sie verwertet wird. So ist das Fatzerdokument zunächst hauptsächlich zum Lernen des Schreibenden gemacht. Wird es späterhin zum Lehrgegenstand, so wird durch diesen Gegenstand von den Schülern etwas völlig anderes gelernt, als der Schreibende lernte. Ich, der Schreibende, muß nichts fertigmachen. Es genügt, daß ich mich unterrichte. Ich leite lediglich die Untersuchung und meine Methode dabei ist es, die der Zuschauer untersuchen kann. (BFA 10.1, 514, BBA 109/14 + 520/07)

Brecht zeigt hier, dass seine Lernprozesse als Schreibender andere sind als die bei der “Verwertung” in Form eines “Lehrgegenstand[s],” respektive Materials. Brecht muss kein “fertiges” Werk schaffen, sein Schreibprozess muss nicht abgeschlossen sein, vielmehr “unterrichte[t]” er sich selbst und macht dazu mit Hilfe des “Fatzerdokuments” eine “Untersuchung”; “der Zuschauer” dagegen soll Brechts “Methode” in der Anwendung, also in der Praxis, “untersuchen.”

Brechts Theatertexte dienen im Zusammenspiel mit Musik, Bühnenbild und Schauspielkunst aber auch als besonders wichtiges Material für seine Theaterpraxis. Die Texte müssen sich bei den Inszenierungen “bewähren” und werden – ausgehend von der theatralen Praxis – immer wieder überarbeitet und modifiziert, neu gelesen und ausprobiert. Ihrerseits bildet die jeweilige Theaterpraxis das Material für Veränderungen und Bearbeitungen der Texte. Ohne Aufführungsmöglichkeit ist der Theatertext in seiner ästhetischen und politischen Qualität, d.h. in seiner Brauchbarkeit, nicht überprüfbar, wie Brecht in seiner-Exilzeit bei seinem äußerst unbefriedigenden Arbeiten für die Schublade erfahren hat.

Ausdruck dieses dialektischen Verhältnisses sind die von Brecht entwickelten Modellbücher, die er seit den 1940er Jahren, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als er in der SBZ/DDR endlich selber inszenieren konnte, mit Unterstützung von Ruth Berlau konzipierte.[28] Mit Beschreibungen, Kommentaren und Analysen, mit Notaten und Protokollen, Noten, Skizzen und Zeichnungen, vor allem aber mit einer Vielzahl von Bühnenfotos werden der Grundgestus des jeweiligen Stückes sowie szenische Arrangements, die Gliederung der Fabel, Tempo, Ablauf der Aufführung und Varianten festgehalten. Brecht geht es dabei jedoch nicht um Vorschriften, nicht einmal um Vorbilder, sondern um experimentelle Entwürfe als Theater-Material zwecks Weiterentwicklung und Weitergabe seiner Theaterarbeit mit Blick auf spätere Inszenierungen. In der umfangreichen großformatigen Publikation Theaterarbeit von 1952, in der “6 Aufführungen des Berliner Ensembles” versammelt sind,[29] heißt es dazu:

Modelle zu benutzen ist eine eigene Kunst; so und so viel davon ist zu lernen. Weder die Absicht, die Vorlage genau zu treffen, noch die Absicht, sie schnell zu verlassen, ist das Richtige. Bei dem Studium von Modellen, von Erörterungen und Erfindungen beim Einprobieren eines Stücks sollte man angesichts gewisser Lösungen von Problemen hauptsächlich der Probleme ansichtig werden. Gedacht als Erleichterung, sind die Modelle nicht leicht zu handhaben. Sie sind nicht gemacht, das Denken zu ersparen, sondern es anzuregen; nicht dargeboten, das künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern es zu erzwingen. Nicht nur zur Abänderung der Vorlage, auch zur Annahme ist Phantasie nötig. (BFA 25, 398)

Diese Modellbücher sollen also “Vorlagen,” d.h. Material, für die praktische Theaterarbeit sein.

In einer anderen Weise spielt der Material-Begriff für Brecht auch auf den Proben eine auffällige Rolle. Von ihm und seinem Theaterkollektiv werden dabei Materialien vorgestellt und ausgebreitet, untersucht und geprüft, kritisiert und modifiziert. Die spezifische Form der Proben besteht aus dem “Ausprobieren [kursiv im Original]” von “mehrere[n] Möglichkeiten,” wie Brecht in dem Text “Haltung des Probenleiters (bei induktivem Vorgehen)” (BFA 22.1, 597–599) schreibt. Er versteht den “Probenleiter” (BFA 22.1, 597), wie er den Regisseur nennt, nicht als genialen Künstler, der seinen Regieeinfall umsetzen und durchsetzen will, sondern als Handwerker mit “induktivem Vorgehen” in einem kollektiven Prozess. Seine “Aufgabe ist es, die Produktivität der Schauspieler (Musiker und Maler usw.) zu wecken und zu organisieren” (BFA 22.1,597), indem er ihnen den Theaterraum, Bewegung und Geste, vor allem aber den Text und den sprachlichen Ausdruck als Material anbietet.[30] Brecht bezieht seine Überlegungen zur “Schauspielkunst” (BFA 22.2, 618) explizit auch auf nichtprofessionelle Schauspieler*innen und arbeitet mit Amateuren: “Von Anfang an wurden Amateure mit ausgebildet” (BFA 22.1, 555). Ausdrücklich betont er, dass “es sich lohnt, vom Amateurtheater zu sprechen” (BFA 22.1, 593).

Auch die Zuschauer*innen sehen sich in Brechts epischem Theater nicht mit einem in sich geschlossenen Werk konfrontiert, Theaterautor, Regisseur*in und Schauspieler*innen geben keine feste Bedeutung, keine fertige Interpretation vor. Das Publikum soll angesichts des dargebotenen Materials vielmehr “eine Haltung” entwickeln, “die auch in den Wissenschaften eingenommen werden muß” − “eine staunende, erfinderische und kritische” (BFA 26, 407), sodass ein Spannungsfeld zwischen Bühne und Publikum entsteht. Brecht lehnt es ab, “den Zuschauer in eine einlinige Dynamik hineinzuhetzen, wo er nicht nach rechts und links, nach unten und oben schauen kann” (BFA 24, 59) – eine Formulierung, die schon auf das postdramatische Theater vorausdeutet. Für dieses “komplexe Sehen” (BFA 24, 59) bedarf es – so Brecht – neben der “Schauspielkunst” allerdings eine “Zuschaukunst” (BFA 22.2, 618).

In Brechts Lehrstück-Konzeption bilden schließlich die komplexen poetischen Texte in besonderer Weise das Material oder – wie es auch gelegentlich heißt – die Folie, das Dispositiv für den Spielprozess der Teilnehmenden und Agierenden, denn: “Die Form der Lehrstücke ist streng,” d.h. konzentriert und in gewisser Weise reduziert, “jedoch nur, damit Teile der eigenen Erfindung und aktueller Art desto leichter eingefügt werden können” (BFA 22.1, 351). Die Lehrstücke stehen nicht für einen Lerninhalt, sie sind vielmehr Lehrgegenstand in Form von politisch-theatralem Material für den Lernprozess und die ästhetische Erfahrungsproduktion der Beteiligten, denn: “Es handelt sich bei diesen Arbeiten um Kunst für den Produzenten, weniger um Kunst für den Konsumenten” (BFA 22.1, 167).

Der folgenreiche “Klassiker” Brecht als Material

Gegen Max Frischs Formulierung, Brecht habe die “durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers,”[31] stelle ich schließlich drittens die These auf: Brecht ist im deutschsprachigen Raum der wirkungsvollste Theater-”Klassiker” im 20. und 21. Jahrhundert und dient dementsprechend mit seinem epischen Theater und sogar mit seinen Lehrstücken als Material für vielfältige Theaterprozesse.[32] Als “Klassiker” kann Brecht bezeichnet werden, weil er traditionelle theatrale Elemente, vorbildhafte Theater-Experimenten und seine Zeit überdauernde Theaterformen miteinander verbindet, und wirkungsvoll ist er immer noch, wenn auch nicht direkt politisch, so doch politisch-ästhetisch. Er ist keineswegs ein “toter Hund,” wie er lange und immer wieder vor allem im Feuilleton betitelt worden ist, vielmehr ist er seit vielen Jahren der meist gespielte Autor nach Shakespeare, und die heutige Theaterpraxis und viele aktuelle Inszenierungsstile sind ohne Brecht nicht denkbar.

Abgesehen von Brechts Regie-”Schülern” Peter Palitzsch, Egon Monk, Benno Besson und Manfred Wekwerth – später kann wohl auch Heiner Müller dazu gezählt werden – verwenden auch viele andere Regisseure*innen am traditionellen Stadttheater ebenso wie an Freien Theatern oder bei den großen weltberühmten Häusern Brechts theatrale Techniken und Theaterformen, als zurzeit bekannteste sind wohl René Pollesch und Frank Castorf zu nennen. Brecht beeinflusst sowohl das Theater, das in der realistischen Tradition steht, als auch das Regietheater, vor allem ist er ein Ausgangspunkt des sogenannten Postdramatischen Theaters. Selbst seine Schauspieltheorie,[33] die Jahrzehnte deutlich im Schatten von Konstantin S. Stanislawski, Lee Strasberg und Michail Tschechow stand, beeinflusst in neuerer Zeit verstärkt die Schauspieler*innen etwa bei Castorf und Milo Rau.

Besonders sichtbar aber ist Brechts Weiterwirken in der deutschsprachigen Dramatik: In Auseinandersetzung mit Brecht steht Max Frisch mit seinen “Lehrstücken ohne Lehre” und – wenn auch distanzierter – Friedrich Dürrenmatt mit seinen grotesken Komödien, weiterhin das Dokumentartheater eines Heinar Kipphardt und Peter Weiss, aber auch jüngere dokumentarische Experimente, das neue Volkstheater eines Franz Xaver Kroetz, ganz zu schweigen von einer ganzen Generation von Dramatikern aus der DDR; die bekanntesten sind Peter Hacks, Volker Braun und Heiner Müller. Letzterem diente Brecht außer Shakespeare, Büchner, Kafka, Artaud, Beckett als bevorzugtes Material: Neben Brechts Büsching-Entwurf steht Müllers Der Lohndrücker, die Lehrstücke Die Horatier und die Kuriatier sowie Die Maßnahme entstehen neu und zugleich widerspruchsvoll weiterentwickelt als Der Horatier bzw. als Mauser sowie Der Auftrag; Die Schlacht bildet einen Kontrapunkt zu Furcht und Elend des III. Reiches. Besonders hervorzuheben sind Müllers gescheiterter Versuch, Brechts Fragment Die Reisen des Glücksgotts mit seinem Glücksgott weiterzuschreiben, und seine Experimente mit Brechts Fatzer-Fragment.

Es ist ungewiss, welchen Stellenwert in Zukunft das Brecht-Material in der Theater-Entwicklung haben wird, wie also ein “Theater der Zukunft,”[34] von dem Brecht mit Blick auf Die Maßnahme spricht, und wie “der höchste Standard technisch” (BFA 26, 330), den er im Fatzer zu finden glaubt, aussehen werden. Aber Brechts Theater, seine Texte, seine Theorie und seine Praxis, werden weiter als Material eine kritische Verwendung finden. Brechts Materialwert-Theorie bildet, gerade auch auf ihn selbst angewandt, heute noch einen produktiven Ausgangspunkt für die Theaterpraxis. Zurecht weist Müller darauf hin: “Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.”[35] Aber dazu muss das Material gebraucht und praktisch erprobt werden. Deshalb ist Sebastian Kirschs Modifikation von Müllers Statement gleichermaßen zutreffend: “Brecht zu kritisieren ohne ihn zu gebrauchen ist Verrat!”[36] – also weiterhin praktische Kritik und kritische Praxis des Brecht-Materials.


[1] Vgl. auch Günther Heeg (Hg.): Recycling Brecht. Materialwert, Nachleben, Überleben. Berlin: Theater der Zeit 2018 und Florian Vaßen: “einfach zerschmeißen”. Brecht Material. Lyrik –Prosa – Theater – Lehrstück. Mit einem Blick auf Heiner Müller. Berlin/Milow/Strasburg: Schibri 2021.

[2]  Bertolt Brecht: Materialwert,” In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u.a. Bd. 21. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp 1993, S. 285–286; im Folgenden steht die Sigle BFA mit Band- und Seitenzahl hinter dem Zitat; vgl. auch BFA 21, 288–289.

[3]  Duden. Bd. 5. Fremdwörterbuch. Mannheim u.a.: Dudenverlag 8. Aufl. 2005, S. 639. “Materia” bildet mit ihrer spätlateinischen adjektivischen Form “materialis” auch den sprachlichen Ursprung des Begriffs Materialismus. Es ist also durchaus denkbar, dass Brecht in seiner Vorliebe für den Material-Begriff den historischen und dialektischen Materialismus von Marx und Engels immer mitdenkt. Ernst Bloch verweist in einer etwas eigenartigen Formulierung darauf, “daß das Wort Materie von mater herstammt, also von fruchtbarem Weltschoß und seinen durchaus experimentierten Formen, […].” Ernst Bloch: “Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz.” In: ders.: Gesamtausgabe Bd. 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 17.

[4] Pointiert schreibt Brecht 1926: “Das Theater wird in absehbarer Zeit das verstaubte Repertoire eines Jahrhunderts einfach auf seinen Materialwert hin untersuchen, indem es die guten alten Klassiker wie alte Autos behandelt, die nach dem reinen Alteisen-Wert eingeschätzt werden” (BFA 21, 164).

[5] Vgl. Florian Vaßen: “Die ‘Verwerter’ und ihr ‘Material’ – Brecht und Baal.” In: ders.: “einfach zerschmeißen,” S. 174–199.

[6]  Wie Brecht arbeiten auch die Naturwissenschaften in ihren Versuchen mit vorgefundenem, zum Teil fremdem Material.

[7]  Alfred Kerr: “Toller und Brecht in Leipzig.” In: Berliner Tageblatt vom 11.12.1923; zit. nach Bertolt Brecht. Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 176–180, hier S. 177.

[8]  Herbert Ihering: “Toller und Brecht.” In: ders.: Von Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und Film. Bd. 1. 1990–1923. Berlin: Aufbau 1958, S. 356–360, hier S. 358f.

[9] Mit einer anderen Akzentuierung spricht auch der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade 1928 in dem antikolonialistischen und kulturrevolutionären Manifesto Antropófago (Antropophagisches Manifest)von dem Einverleiben und Fressen des Fremden.

[10] Hans-Joachim Bunge: “Vorausbemerkungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts.” Sonderdruck aus: Mitteilungsblatt der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. (1958), H. 1–3, S. 23–30, hier S. 25; zit. nach Iliane Thiemann: “Fragmente in laufenden Metern. Ein [fragmentarischer] Streifzug durch das Bertolt-Brecht-Archiv.” In: Astrid Oesmann / Matthias Rothe (Hg.): Brecht und das Fragment. Berlin: Verbrecher Verlag 2020, S. 199–231, hier S. 220.

[11]  Thiemann: Fragmente, S. 225.

[12]  Thiemann: Fragment, S. 223.

[13]  In Bezug auf die Verfremdung sieht Brecht sich “beim Aufbauen einer Aufführung eher wie einen Monteur als wie einen Gärtner” (BFA 25, 429).

[14]  Walter Benjamin: “Notizen Svendborg Sommer 1934.” In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 523–532.

[15]  Hans Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917–22. Zürich: Archiv 1963, S. 9.

[16]  Vgl. Herbert Marcuse: “Zur Kritik des Hedonismus.” In: ders.: Schriften. Bd. 3. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941. Springe: zu Klampen 2004, S. 250-285. Neben Herbert Marcuse haben sich auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit der Frage des Glücks auseinandergesetzt. Ähnlich wie Marcuse betonen sie, dass das “Ziel” “das Glück aller Individuen” sei und “daß kein individuelles Glück möglich sei, das nicht virtuell das der Gesamtgesellschaft in sich beschließt.” Theodor W. Adorno: “Veblens Angriff auf die Kultur.” In: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Bd. 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 72–96; hier S. 87; vgl. Pola Groß: Adornos Lächeln. Das “Glück am Ästhetischen” in seinen literatur- und kulturtheoretischen Essays. Berlin/Boston: de Gruyter 2020.

[17]  Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Bd. 9. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. 191–270, hier S. 208f.; vgl. auch Florian Vaßen: “‘Erst kommt das Fressen…’. Glücksverlangen, Produktivität und ‘Materialwert’ – Nietzsches Antimoralismus, Spinozas Materialismus und Freuds Lustprinzip.” In: ders.: “einfach zerschmeißen,” S. 200–223.

[18]  Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 225.

[19] “Produktion muß natürlich im weitesten Sinn genommen werden, und der Kampf gilt der Befreiung der Produktivität aller Menschen von allen Fesseln. Die Produkte können sein Brot, Lampen, Hüte, Musikstücke, Schachzüge, Wässerung, Teint, Charakter, Spiele usw. usw.” (BFA 26, 468).

[20]  Heiner Müller: “Fatzer±Keuner.” In: ders.: Werke. Hg. v. Frank Hörnigk. Bd. 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 223–231, hier S. 231.

[21]  Siehe Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976; Steinweg erwähnt in seinem Nachwort “etwa 80 unterschiedliche Wortfolgen” und betont ausdrücklich, dass Brecht seine Texte nicht als “Endprodukte” ansieht, sondern als “in Entwicklung zu haltende Gefüge” (S. 484).

[22]  BBA 109/56 (hs.); Textstellen, die nicht in BFA enthalten sind, werden nach dem Bertolt-Brecht-Archiv mit der Sigle BBA und den entsprechenden Nummern zitiert; siehe auch Günter Glaeser: “Fatzer [Kommentar].” In: BFA 10.2, 1120.

[23]  Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin: Dietz 1969, S. 3–160; hier S. 10.

[24]  Vgl. hierzu zuletzt Oesmann/Rothe (Hg.): Brecht und das Fragment.

[25]  Vgl. Florian Vaßen: “‘Das utopische Moment ist in der Form.’ ‘Selbstverständigung,’ Schreibprozess und theatrale Form – Heiner Müllers und Bertolt Brechts Fatzer.” In: ders.: “einfach zerschmeißen,” S.  521–536.

[26]  Vgl. Heiner Müller: “Ein Brief.” In: ders.: Werke. Bd. 8, S. 174–177, hier S. 175.

[27] Müller: “Fatzer±Keuner,” S. 229.

[28]  Vgl. Bertolt Brecht: [“Katzgraben”-Notate 1953]. In: BFA 25, 399-490. “Während die Modellbücher Dokumente von Aufführungsergebnissen darstellen, sind die “Katzgraben”-Notate 1953 der erste und einzige Versuch Brechts, einen Probenprozeß darzustellen, der zum Aufführungsmodell führt.” Werner Hecht: “Katzgraben”-Notate 1953. In: BFA 25, 542–578, hier S. 545; vgl. auch Iliane Thiemann: “Fragmente,” S. 225.

[29]  Berliner Ensemble/Helene Weigel (Hg.): Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Dresden: Dresdner Verlag 1952; vgl. BFA 5. Zu der oft übersehenen Bedeutung von Brechts Theaterarbeit vgl. Detlev Schöttker: “Brechts ‘Theaterarbeit’. Ein Grundlagenwerk und seine Ausgrenzungen.” In: Weimarer Beiträge 53 (2007), H. 3, S. 438–451.

[30]  Anschaulich präsentiert und erfahrbar wird neuerdings Brechts Probenarbeit durch 133 Tonbänder mit Aufzeichnungen von fast 100 Stunden von Brechts Proben des Galilei, seiner letzten Inszenierung im Jahr 1955/56, Tonbänder, die Stephan Suschke im Bertolt-Brecht-Archiv entdeckt und aus denen er ein wichtiges Tondokument zusammengestellt hat. Brecht probt Galilei 1955/56. Ein Mann, der keine Zeit mehr hat. Originalaufnahmen. Ausgewählt und zusammengestellt von Stephan Suschke. Berlin: speak low 2021. [3 CDs mit Booklet].

[31]  Max Frischs Diktum (1965) von der “durchschlagende[n] Wirkungslosigkeit eines Klassikers” in Bezug auf Brecht war vermutlich ironisch gemeint, wurde aber in der Folgezeit zu einem zentralen Aspekt in der Kritik an Brecht. Max Frisch: “Der Autor und das Theater.” In: ders.: Öffentlichkeit als Partner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 68–89; hier S. 73; Vgl. auch Frischs Äußerungen zu Brecht in: Max Frisch: Tagebuch 1946–1949. In: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Bd. II, 1944–1949. Hg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 347–750, zu Brecht besonders S. 593–603; Max Frisch: Tagebuch 1966–1971. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. VI, 1968–1975, S. 5–404, zu Brecht besonders S. 20–38.

[32] Zu Brecht als Klassiker vgl. auch Hellmuth Karasek: Bertolt Brecht. Der jüngste Fall eines Theaterklassikers. München: Kindler 1982; ders.: Vom Bürgerschreck zum Klassiker. Hamburg: Hoffmann und Campe 1995.

[33] In den “Katzgraben”-Notatenbehauptet Brecht, dass das Theater in Bezug auf die Verfremdung “noch nicht weit genug” sei, und betont: “Ich müßte die Schauspieler völlig umschulen und würde bei ihnen und beim Publikum einen ziemlich hohen Bewußtseinstand benötigen, Verständnis für Dialektik usw.” (BFA, 25, 430).

[34] Brecht referiert von Manfred Wekwerth. In: Brecht: Die Maßnahme, S. 262–266, hier S. 265.

[35] Heiner Müller: “Fatzer±Keuner,” S.231.

[36] Sebastian Kirsch. “Brecht kritisieren ohne ihn zu gebrauchen ist Verrat!” In: Theater der Zeit 67 (2012), H. 3, S. 61.

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Georgios Sarantopoulos

“Now I can see it crystal clear. The system is a seesaw.” Understanding the Economic Crisis Through Saint Joan of the Stockyards

Following the success of The Threepenny Opera, Bertolt Brecht wrote Saint Joan of the Stockyards (Die Heilige Johanna der Schlachthöfe) between 1929 and 1931. The play was broadcast on Berlin Radio on the 11th of April 1932, featuring Carola Neher as Joan and Fritz Kortner as Mauler. The cast also included Helene Weigel, Ernst Busch, Peter Lorre, Paul Bildt, and Friedrich Gnaß. It was not until the 30th of April 1959 that the play would have its first theatrical production at the Deutsches Schauspielhaus in Hamburg after Brecht’s death.[1]

Given Brecht’s timeless character as regards his views on theatre and social issues, the question that begs to be answered is, first of all, what can we gain from a myth like that of Die Heilige Johanna der Schlachthöfe in our modern times? Is there a theoretical framework that is reflected in the play, and if so, what could that be?

Another question concerns the way in which we could we revive a play such as St Joan in Brechtian terms, relying on the playwright’s practical advice and methods, considering that he did not leave us any practical example of how St. Joan could be staged.

Apart from analyzing the Greek experience of staging St. Joan in 2008, this paper will attempt to interpret how the phenomenon of economic crisis is portrayed in the play. From our perspective, we maintain that there is a similarity between the period in which St. Joan is set, the period of Weimar political and economic turmoil, and our times, namely, the period from 2008 to 2018.

The way St. Joan describes the Weimar crisis leads us to the following conclusion about the similarities between the past and the present: history repeats itself over and over again through recurrent manifestations of wars, crises, poverty, starvation, and unemployment, leading to misery, whilst a huge amount of wealth is accumulated. If such an approach is correct, then the quote asserting that “history repeats itself, first as tragedy, second as farce” is probably correct as well.[2] The common element from 1929 up to the present day is that the very same mode of production is in use. So, were we to trace Brecht’s discontent with his times and social reality, as it is expressed in his play, it wouldn’t be farfetched to claim that such would also be his stance today if he were alive.

As for Brecht’s time, what followed the Great Depression and the chain-reaction in the economy of the various European countries in the early twentieth century was massive to an unprecedented degree. Crisis should not be seen as a deviation from the normal operation of capitalism, but rather as one of its functional components, a phase that regularly occurs during the cycle of capitalist production. It is the moment when the accumulation of surplus, extracted from the production process, can no longer be invested in any field guaranteeing high profit margins, so that it is depreciated. Due to the attempt to circulate ever wider amounts of the surplus at an increasingly fast pace, capitalism generates crises far too often, precisely because of its normal development. As Marx wrote in his Das Kapital, “the crises are always momentary violent solutions of the existing contradictions, violent eruptions, which restore the disturbed balance for a moment.”[3] Crisis, therefore, originates from the process of capital over-accumulation, which is not something alien to the normal operation of the capitalist mode of production, but rather the result of capitalistic development; “crisis is seen instead as the (periodically outbreaking) outcome of capitalist development – of the total contradictions that characterize capitalism.”[4]

Can we maintain, though, that Brecht was aware of Marx’s crisis theory? Based on what we can derive from his biography, it seems indisputable. More specifically, Brecht initially came in touch with Marxism through the SPD and German communist groups. Besides, Brecht kept abreast of the struggles of the workers’ industrial unions throughout the early 1920s.[5] Early on, he aligned himself with Lenin’s strategic triumphs and his theoretical works on dialectical and historical materialism. Moreover, he was astounded by the great impact of the Bolsheviks’ socialist revolution in Russia and the struggles of the Soviet people to overcome the imperialist siege of 1918, as well as by the efforts of the newly established socialist economy to take its first steps.[6] On the brink of the looming terror of the Nazi regime, Brecht attempted to describe what had been the overall situation during the previous period of the Weimar turmoil.

In St. Joan, he portrayed “the prevalent social system, controlling the employment and livelihood of vast masses of people, (as) the cause of intolerable hardships.”[7] His intention in St. Joan of the Stockyards was to alter the working class worldview (Weltanschauung), to challenge the ideological apparatuses of the dominant social class “as intellectually and organizationally bound up with the social order,” and to urge people to turn their backs on the dominant moral and religious principles.[8]

“Now I can see it crystal clear: your system is a seesaw” or a Critique of Capitalism

In St. Joan, Brecht explains the phenomenon of financial crisis in terms of its socio-economic origins and the process of its historical formation, shows who would stand to gain by it, and suggests what the way out might be. As Gisela E. Bahr has accurately pointed out, in St. Joan of the Stockyards we can see the course of capitalistic development from its phase of growth to that of crisis.[9]

More specifically, we follow the course of Pierpont Mauler’s adjustments to the new necessities, created by the crisis affecting the meat industry. At the same time, the play shows how the joint control of production by capitalist trusts and monopolies has replaced the old-fashioned mode of production by individually owned productive units. Though he wishes that things might return to the previous condition, Mauler makes all the necessary adjustments to take control of the meat market. Joan follows a path of familiarization with the real process of things that leads her to reconsider her views. Her primary beliefs originated from the preaching of the church, while her being a member of the Black Straw Hats changes when her life begins to be connected to that of the workers: “The earthly joys you chase after, a bit of food, a nice place to live, a movie show-these are crude sensual pleasures,” she characteristically says in the beginning.[10] Her initial belief is that salvation can only come by stopping violence and the use of force, pursuing the sacred path of reconciliation with injustice, and turning to faith. What Joan asks the oppressed to do in her preaching is to turn their sight to God’s word, for it is: “a higher, finer, more spiritual joy.”[11]

During her three descents to the bottom of society, Joan realizes that the source of inequality between the deprived and the privileged classes is the exploitative character of the social organization and economic activity. Her disassociation from the prevalent outlook is expressed through the metaphor of the bridge and the seesaw. This change of worldview, which is caused both by experience, social intervention, and ideological emancipation, leads her to state in front of a large audience of workers, reporters, and capitalists the following words:

I see the system. Its surface/ Has long been known, but not/ The inner workings. I see some people, a few, on top/ And many down below: Come up, then l/ Shout down to those below: Come up, then all/ Of us will be on top.[12]

Through this experience she realizes that such inequality, though hidden at first sight, necessitates its own perpetuation. In other words, the problem is not the existence of the seesaw, but rather the fact that those on top, despite all their claims to the contrary, demand to maintain their power. As Joan states:

(…) if you look/ Closely, you’ll see a hidden something/ Between the ones on top and those below. It/ looks like a path, but no, it’s not a path./ More like a plank, and now you see it plainly, it’s/ A seesaw. That’s it. This whole/ System’s a seesaw with two ends/ Depending on each other.[13]

Brecht’s insightful illustration of social relationships as a seesaw derives from collective experience, namely, from an everyday image that can easily be understood, as it is a common childhood experience. His intention, though, is to trigger a cognitive process of comparison between the function of the seesaw and the mode of production. The two ends could never be on an equal level unless those on top stopped being there and the top end was subverted. Only then would the seesaw stop being a path “that gaps the two ends.” A necessary condition for the existence of such inequality is maintaining these two positions unharmed:

Those on top/ Are where they are because the others/ Are down below, and they will stay up top/ Only so long as the others stay down. They’d be/ On top no longer if the others, leaving their/ Old place, came up.[14]

Those at the bottom have to be kept chained there through the illusion, ingrained in them by the ideological apparatus of the upper class, that there is no viable alternative. They have to accept and familiarize themselves with their role. In other words, those at the bottom should feel at ease saying: “Here we stand with hands like shovels/ And necks like forklifts, wanting to sell/ Our hands and necks.”[15]

For the privileged ones, maintaining the seesaw as it is requires selling the lie that everyone could find themselves at the top by means of their industriousness and resources. Nevertheless, Mauler and his colleagues are mindful of the fact that, in reality, those at the bottom could threaten their current social position. Indeed, they are aware that:

(…) Too many people/ Are howling with pain, and there will be more./ That crowd besieging our bloody cellars/ Can’t be put off any longer. When they / Lay hands on us, they will/ Dash us to the ground like rotten fish./ Not one of us will die in bed.[16]

Circumstances can change, though, and maintaining peace and order is not always in their hands. The iron forces of the capitalistic mode of production lead those at the top to accumulate a surplus, but that very process generates crises and the massive destruction of means of production, which includes the destruction of human potential and the scorn for human life. This is why Mauler is wary “Not [of] what’s above but what’s below me!/ Those people in the stockyards, too weak/ To last the night, but who will rise/ Up in the morning, I know it.”[17]

Therefore, when Mauler gathers his council to present the solution to their difficult position to its other members, he gives them the following piece of advice:

(…) One cause is obviated./ There was too much meat. This year the market/ Was glutted and the price of livestock/ Fell through the floor./ (…) we packers, and we breeders have/ Resolved by one accord to impose a limit/ On hitherto unbridled livestock production/ And to forestall the glutting of the market/ By wiping out the present oversupply. In a word, by burning a third of all our livestock.[18]

To overcome the lost capital, new investment fields need to become available, while companies also resort to downsizing the cost of production, something which entails cutting wages, reducing the number of employees, and maximizing productivity. In this way, however, human potential and its ability to work and utilize the tools and other means of production not for the benefit of the few but for the satisfaction of the needs of the many, redefining the purpose of the production process, are going down the drain. The destruction of the means of production is reminiscent of what Marx pertinently argued in the Critique of Political Economy, when he stated that the existing relations of production begin as forms of development of the productive forces, only to turn into their fetters. That is when an era of social revolution begins, and it is precisely in this point that we can, again, find an instance of Marx’s influence on Brecht’s philosophical outlook reflected in the literary device of the seesaw.

It is for the sake of their profits that Mauler advises Snyder to proceed to the lockout of even more workers and to the cutting of all their wages. To quote his own words:

Dear Snyder, (…) All those people/ Standing out there are customers! (…) They may seem worthless, superfluous/ Even bothersome, but it cannot/Escape scrutiny that they are customers/ Though many will not understand, it is/ Essential to lock out a third of all the workforce/ For labor too has glutted the market and must be / Curtailed! (…) And wages cut![19]

Were we to suppose, however, that only through oppression, violence, and brutality is it possible to maintain the seesaw’s stability, we would be wrong. For if violence is an effective means in the struggle between the workers and the owners of wealth, there is also another much more effective means: assimilation. Mauler recognizes the significance of ideological and moral institutions in restraining or hindering any activity – or even theory – that questions or defies the condition of the seesaw, in other words, the basis of capitalist supremacy. It is after all true that “human affairs are uncertain,” and this is why Mauler, faced with the workers’ growing unrest, chooses to generously fund the salvation army, the Black Straw Hats. In his own words:

Our overriding purpose/ In these dark times of cruel confusion/ Of dehumanized humanity/ When in our cities the unrest never ceases (…) Is to prevent the brute force of the short-sighted people/ From smashing their tools and destroying their livelihood/ And to bring back peace and order. To this end we mean/ to/ Encourage the order-fostering work of you Black Straw Hats by/ Generous endowments./ (…) Therefore you people/ Must play the game and, even if you make no sacrifices, which/ We don’t expect of you, at least put your stamp of approval/ On those required of others./ In short: you must / Rebuild God/The only salvation, and/ Beat the drum for Him, to get Him a/ Foothold in the slums/ And make His voice resound in the stockyards.[20]

Nevertheless, Joan abstains from her original illusions maintaining that:

Those at the bottom are kept at the bottom/ So that those on top may stay on top./ And the baseness of those on top is beyond measure./ And even if they got better, it wouldn’t /Help, for the system they have/ Created is flawless:/ Exploitation and disorder. Bestial and therefore/ Incomprehensible.[21]

This is indicative of Brecht’s mistrust of the prevalent ideological institutions as regards the ability of the working class to reshape them and use them in their own interests. Joan rouses the workers in front of the Black Straw Hats, causing the anger of the capitalist camp, warning them that “Even if their bodies are stuck in the mud, they too should have their heads/ Bashed against the sidewalk.”[22]

In those dark times, Joan comes to a valuable conclusion: “where force rules only force can help and/ In the human world only humans can help.”[23] That is a shift from the initial idea of social peace and collaboration that Joan had expressed; what now drives history forward is the use of force and violence. The most valuable conclusion that Joan reaches is that the issue of social change and emancipation, being guided by the inherent laws of the mode of production, transcends and, at the same time, comprises the individual. The relationships of production cannot be altered at the mere whim of individuals, nor yet because the classes will it. We should, then, acknowledge that a social being is determined by the social organization that human activity has created, rather than the other way round. After all, “It is not the consciousness of men that determines their being, but, on the contrary, their social being that determines their consciousness.”[24]

The “Descents” as the Path to Reaching the Truth

An interesting part of Brecht’s allegory that caught our attention was Joan’s “dives” or “descents.” The resemblance of this metaphor to that of the philosopher’s descent into the cave, according to the Platonic allegory, is certainly obvious. The descent of an illuminated person into the misery of the material world, far from being a mere literary resemblance, is a common motif, not only in Brecht’s and Plato’s work, but also in Dante’s Divine Comedy.[25] It wouldn’t be an exaggeration to state that the descents constitute a widespread archetypal motif encountered in many ancient cultures and civilizations. But such a descent, apart from its literary significance, has a philosophical dimension too; it constitutes a transition from life to death, from a higher truth to blindness, as Plato argues in his allegory of the cave, in the Republic.[26]

Even if Plato regards the cave or the descent to the bottom of material life as a descent to a world of ignorance and illusions, Brecht, and Dante before him, have interpreted it as the only possible path towards an accurate knowledge of life. Therefore, Brecht’s allegory of Joan’s descents, while resembling death – since Joan looks like Persephone stepping into the realm of Hades – is, in fact, a process of enlightenment and modification of one’s worldview.[27] If this means that the subject rejects itself in the process of altering its worldview, then it is a negation of the self that could be considered as the death of our past. But apart from this negative side, it is, at the same time, an acknowledgment of the material world as the one from which we draw all means for seeking the truth, deciphering the world we live in, and acting for the cause of social progress. The intellectual that becomes involved in the relationships of people aims to understand them not just by observing them from a higher standpoint, but through interference and activity. Brecht’s view that the darkness of the stockyards is neither blindness nor an illusion, but rather something more real, is, then, the reverse of Plato’s notion. In short, the descent is driven by the conscious decision to lighten the darkness of the existing social relations, so as to bring about the emancipation of humanity.

Understanding the development of those wide social groups, the so-called classes, entails an inductive reasoning process, departing from individual attitudes, behaviors, and moral values, so as to reach a general conclusion. Joan casts off all her prejudices as she comes closer and closer to the causality of social beings. Her descents are deemed by the Black Straw Hats to be a painful path that leads to her destruction. And yet, it is not the truth itself that causes harm, but rather the use to which humans can put it. This is, more or less, what Marx argues in his prologue to Das Kapital.[28]

The Ideological Institutions and the Morality of the Emerging Working Class

In addition to Joan’s descents, what attracted our attention was the Brechtian deconstruction of ethics and religion. Brecht highlights the insufficiency of religion to reveal the true reasons for human inequality, promising an after-life castigation of injustice. Reflections of a Marxist influence can already be detected in Joan’s initial preaching to the deprived at the breadline under Mauler’s patronage of the Black Straw Hats. As early as 1843, in his Critique of Hegel’s Philosophy of Right, Marx had noted that “Religion is the sigh of the oppressed creature, the heart of the heartless world and the soul of soulless conditions. It is the opium of the people (“Die Religion … ist das Opium des Volkes”).

Joan’s initial belief about human immorality is that it derives from spiritual weakness and blindness. In her original understanding, humans are poor not only in material terms relating to their means of living, but also in spiritual terms. Hence, she declares that:

In a dark time of cruel confusion/ Of ordained disorder/ Of systematic lawlessness/ Of dehumanized humanity/ When in our cities the turmoil never ceases:/ Into such a world, resembling a slaughterhouse/ Summoned by rumours of impending violence/ Hoping to stop the brute force of the short-sighted workers/ From smashing their tools and/ Destroying their livelihood/ We propose to bring back/ God.[29]

However, her belief is radically altered after her experience in the world of the stockyards, when she comes in contact with the people who work there. On the other hand, Mauler gradually turns to God and faith as a form of soul therapy from the bloodshed his business involves. He is grieved by the mass execution of the poor animals, yet he is not puzzled by the exploitation of those working in his industries. His confession comes only after being rejected by Joan. Only when Joan’s future seems doubtful and the moment of her sacrifice is drawing closer does he feel sorrow; “If the Black Straw Hats/ Accept your money, let them./ But I will sit down with the people in the stockyards/ Waiting for the plants to open” she tells him.[30]

Ideological institutions are challenged as part of the supreme ideological mechanism serving the perpetuation of the existing socioeconomic system. In Brecht’s own words, the prevalent ideas derive from the power of the ruling class. The goal pursued by the ideological institutions is the maintenance of the supremacy of the ruling class by attributing to it a mystified, transcendental right. It should come as no surprise that Mauler asks for peace and order in times “of cruel confusion/ Of ordained disorder/ Of systematic lawlessness/ Of dehumanized humanity,” and the way to achieve this is by promoting reactionary role models, as well as by supporting bewildering doctrines.[31]

Nevertheless, the working class can become the collective political agent that will challenge the omnipotence of the ruling class, so long as it becomes conscious of itself as a class, having its own identity, worldview, organization and political goals. The great gap between the moral codes of these conflicting sides does not mean that they are in balance, coexisting in harmony with one another. On the contrary, the ethics upheld by each class is indicative of another struggle between humane and inhumane moral principles. The new values won’t be able to fully blossom as long as the prevalence of profit-driven social practice is maintained and not subverted. Nothing seems to be able to bridge those two moral codes, since they stem from completely opposite forces in the production process. More than that, the new moral values of the working class can only be realized after the liberation of humanity from the exploitation of man by man.

Like many Brechtian characters, Joan is a symbol of the contradictions inherent in the capitalist mode of production, as well as of the strife between two conflicting sides. As she will come to realize, this is not a rivalry between two different ethical codes, but rather a struggle between two conflicting sets of social practices: making the greatest possible profit on the part of Mauler, and fighting for survival on the part of the workers, and religion cannot bridge the gap between the two moral codes.

Were we to attempt a deconstruction of the symbolism now, we would have to transpose the problem from the ethical to the political field. In this case, the figure of Joan Dark could stand for the awkward position a government, made up of Social Democrats for instance, finds itself in, caught up as it is among conflicting social interests, forces, and ideas. It explains the inability of such a government to legislate in a way that reconciles the desires of the capitalist class and the needs of the working class. This echoes the bitter historical trauma caused by the German Social Democratic government’s incapability to deal with the workers’ demands, since they were playing a double game behind their backs that led to the betrayal of the revolution of November 1918 and, ultimately, to the suppression of the struggle. Joan is the symbol of the struggle that can easily lose sight of its political goals and be lured away from its original aims, betrayed through its own inherent contradictions.

The Greek Practical Experience

Our experience in staging St. Joan of the Stockyards begins in 2008, when a newly formed theatrical team of university students from the National and Kapodistrian University of Athens (NKUA) set about staging the Brechtian play.[32] It was the first attempt at performing St. Joan on the Greek stage since the 1980s.

To prepare for the performance, the team followed some of the principles of Brechtian instructions, such as reading the text collectively, interpreting the same role in different ways, trying narration of roles instead of role impersonation, as if they had been witnessing the events but not taking part, and, of course, being a student theatrical team, we studied Brecht’s work in great depth.[33]

The students also focused on gaining a profound understanding of Brecht’s characters, the controversial nature of their choices and actions, as well as their psychological depth. The main goal was to recreate the social behavior, attitudes, body posture, and gestures of people living in Chicago between 1929 and the 1930s. It was, therefore, necessary to obtain an overall understanding of the whole period of the Great Depression.

Meanwhile, by practicing physical expression, the team attempted to represent the results of hard labor on a human being without being imitative; speech, gestures, and body posture were also studied so as to appreciate the living conditions of both workers and capitalists. Our historical research helped us appreciate the changes of their body stance, their manners, postures, behavior, and social actions. Thus, history was also an integral part of our preparation; starting with an examination of the social conditions in the USA in the early 1930s, the team attempted to reconstruct a whole era and the people living in it. Greater attention should had been paid, however, to the study of Weimar period as critical to Brecht’s thinking on capitalism and means of governance.

The preparation and rehearsals lasted for over 2 years. The construction of the sets and making the costumes were part of the teamwork as well. A group of musicians supported the effort, composing original music for the play. The support of people working in theatre, such as Anna Lazou, Marlene Kaminsky, Georgina Kakoudaki, and others, was invaluable. 

Explaining and showing human exploitation through the Brechtian method of defamiliarization was one of the most challenging parts of the preparation. Apart from the textual fragments that were utilized with the purpose of highlighting the Verfremdung process, symbols and animal-like masks and movements were also used. For instance, to represent the bestial conditions in which the workers live and work, pig-like masks and gestures were incorporated when the workers are gathering for Joan’s soup or seeking a job in Mauler’s factories like animals that are about to be slaughtered. Similarly, we chose to represent the capitalists in a monkey-like way when we see them counting their profits or fighting over their gains at the livestock market.

Finally, the relationship between Mauler and Joan in the scene of “Mauler’s Speech on the Indispensability of Capitalism and Religion” was conveyed as a tango dance filled with romance, as well as with envy and revenge. Mauler’s appeal to Joan to lay down her arms constitutes an attempt to assimilate her, while her cry for justice constitutes a romantic call for altruism.

Our evaluation of Brecht’s St. Joan is that the play is a resonant demonstration of capitalistic society. It is a demonstration of the way human brutalization emerges as something normal out of the very mode of production. Brecht sheds light on the core of moral depravity, trying to investigate the causality of human behavior in terms of its interaction with its social environment. In doing this, he differs from the common approaches viewing human behavior either as something determined by nature and heredity or as something socially predetermined.

In the final scene, in which all speak in chorus, the conflicting human characteristics that oppose each other are shown to formulate character, social behavior, and attitudes, as can be inferred from the following passage:

Man, two warring souls reside/ Deep inside you./ No use trying to decide/ For you can’t help arriving two./ With your other self contending/ Cleaving, clawing, splitting, rending/ Keep the good and keep the evil/ Keep the god and keep the devil/ In a conflict never-ending![34]

Through our staging experience, we reached some conclusions outlined below as an answer to the questions originally posed in this paper. 

To begin with, the metaphor of the seesaw functions as an allegory of social awareness and class ethics. In the figure of Mauler, Brecht creates a symbol of the cyclical reproduction of capital and of all its inherent features. At the same time, the trustworthiness of ideological apparatuses is questioned, when it comes to illuminating the causes of the misery in which the exploited workers live. Joan represents the type of prejudiced person whom life and social conditions transform into a person committed to seeking the truth. Thus, social behavior is presented as a multifaceted phenomenon, influenced by social factors, which demands a scientific approach, if we are to appreciate its various manifestations.

Secondly, we see that history plays a vital role in understanding Brecht’s thought. His inspiration derives from the social reality that he wishes to decry, explaining the historical character of ephemeral reality, human habits, attitudes, and behaviors. But his intention is to help the audience get a deeper understanding of the process of social change, showing that it is the acts of humans that change the world we live in.

Brecht’s method is profoundly political, inasmuch as it portrays social reality as unstable and, consequently, alterable through human intervention. Human activity, behavior, and even the cruelest social structures are shown to be ephemeral, which means that they need to be historicized to be fully understood.[35] That is one of the conclusions this paper aimed to arrive at. Brecht’s plays provide us with a solid theoretical foundation if we take a closer look at them. The representation of that transient and ever-changing historical reality stems from a specific cosmological and ontological analysis. But the mutable character of historical reality signifies that constant experimentations in art are necessary if we are to cope with the changing nature of what needs to be represented and that, ultimately, leads to a dialectical materialist theoretical and practical interpretation of art, such as that expressed in Brecht’s work.

Brecht’s theatre serves certain political goals that determine how social reality is portrayed. Therefore, staging Brechtian plays is more than a simple matter of incarnation of forms or fidelity to Brecht’s style. Our experience highlights that re-staging Bertolt Brecht’s plays is not a formative process, but rather a process that requires a contextual appreciation. Unavoidably, each play reflects the playwright’s political views and goals, which implies that a theatrical troupe has to talk about them if it is to arrive at an in-depth appreciation of the play and its historical context. Thus, we have to agree with David Barnett, Anthony Squiers, and Fredric Jameson’s appreciation of Brecht as a highly political, radical thinker, an insightful philosopher of dialectical materialism.[36] This view is supported both by the way in which Brecht deals with a series of aesthetic as well as social issues, like social behavior. Brecht’s contribution to theatre is the production of an entire method and not just a few innovations introduced in theatrical practice.[37] The emphasis is not on what but on how something should be represented, as Barnett insightfully notes. Bearing that in mind, we are halfway there.

Staging Brecht should always take his philosophical outlook on reality and art into consideration, following the advice provided in the playwright’s notes, his Theaterarbeit or his Modelbooks, even though this might be a secondary task.[38] The first one is to juxtapose the text of the play with Brecht’s original philosophical outlook. That requires an appreciation of the Messingkauf and the Kleines Organon in combination with the essence of radical dialectical materialist thought, the Marxist principles for the cause of humanity’s liberation from exploitation. That is a great exercise for a theatrical company when staging not only Brecht but other plays as well.

Consequently, his diachronic character lies, first and foremost, in the use of his method, the timeless significance of his allegories, and on his work’s highly political goals. That is why, even in the case of St. Joan of the Stockyards – despite the fact that this play has been staged rather few times in the Greek staging history, except for a 2008 semi-amateur attempt described above, and a professional attempt in 2013 – Brecht’s plays never lose sight of the modern puzzlement over social and ethical problems.

The political significance of Brecht’s work does not lie merely in the fact that economic crises occur ever more frequently, but also on its endorsement of radical social change, socialism.[39] Explaining the world scientifically is not something done for its own sake, nor is it a process of self-awareness; rather, it is a process with social implications. In this regard, further research into Brecht’s work is necessary, since his theoretical framework is still relevant today; in fact, his timelessness and relevance for our times comes precisely from the social goals his work serves.

Brecht’s method, if used properly, could show us the way towards solving widespread riddles puzzling people today, such as the exploitation of the workforce, which is now being intensified. At the same time this is the era of artificial intelligence and science that make it possible for us to cover all our needs to an unprecedented degree despite the misery that has ensued from the advent of the Fourth Industrial Revolution and the introduction of industrial robots, despite the ideological surveillance through social media and the illusion that they safeguard our legal right to speak up. Thus, Brecht could be used as a basis to talk about thorny contemporary issues, such as pandemic ethics or, on a broader level, political rights. We could even apply Brecht’s method to modern philosophical issues, to argue, for instance, against the theory of the two extremes (the horseshoe theory). Finally, Brecht’s method can also be applied to art-related issues to argue against post-modernism and in favor of socialist realism, for as Brecht has said “The truth is that/ Where force rules only force can help and/ In the human world only humans can help.”[40]

His intention is to make use of theatrical representations in a way of scientific explanation of social relations and phenomena in terms of guiding social activity. His scheme is to emancipate the audience’s critical stance by estranging its common sense and altering its Weltanschauung. Dialectical materialism is the new rival Weltanschauung that could “[…] demonstrate the revolutionary impact that dialectics exerts wherever it is found, and its role as the best possible gravedigger for bourgeois ideas and institutions.”[41] Furthermore, “What is ‘natural’ had to have the force of what is startling. This was the only way to expose the laws of cause and effect. People’s activity had to simultaneously be as it was and be capable of being different.”[42] Our estimation is that such promise was met when he wrote the St. Joan.

[1] Brecht, “Saint Joan of the Stockyards,” in Collected Plays 3 (London: Methuen, 1998). xxiii. All references are to this English edition of Brecht’s plays. Therefore, the references to the text of St. Joan will be cited as follows: Brecht, Collected Plays, 1998, pages cited. The original work is cited as follows: Brecht, GW 17, 1968. Shriften zum Theater 3, “Die heilige Johanna der Schlachthöfe.”

[2] “Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andre Mal als Farce.” Marx / Engels: Werke. Vol. 8, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (Berlin: Dietz, 1960), 111.

[3] Karl Marx, “Internal contradictions of capital accumulation,” in Das Kapital, v. 3 (2017), 315. For English bibliography on Marx’s perspective on crisis, see Karl Marx, Theories of surplus-value pt. 2 (Moscow: Progress, 1968); Karl Marx, Grundrisse (New York: Random House, 1973); Karl Marx, Capital: A critique of political economy, vol. 3 (Harmondsworth: Penguin, 1981).

[4] B. Dunn, “Marxist Crisis Theory and the Need to Explain Both Sides of Capitalism’s Cyclicity,” in Rethinking Marxism, 23.4 (2011): 524-542.

[5] In 1951, Wieland Herzfeld mentioned that Brecht followed courses at the workers’ school (MASCH) since 1929. He attended courses conducted by Hermann Duncker and Albert Schreiner. In April 1929, Brecht attended three presentations of Lu Maerten’s about “Philosophical and Historical materialism.” He also attended Frida Rubiner’s “Individualism and collectivism” and Gasbarra’s “Theatre and cinema, music, radio.” He also attended a series of three lectures held by Hanns Eisler on “Asian theatre in the last phase of capitalism,” “Revolutionary theatre of Western Europe,” and “Music and labor.” Apart from this, Brecht himself stood before the House Un-American Activities Committee for his Marxist philosophical principles, maintaining that “(…) of course, I had to study the ideas of Marx for history. I don’t believe that one could write insightful plays without such a study.”

[6] Meg Mumford, Bertolt Brecht (London: Routledge, 2009), 20-22.

[7] Brecht, from GW 17, 1968. Shriften zum Theater 3, “Die heilige Johanna der Schlachthöfe.” The edition cited below is Brecht, 1998.

[8] G. Milionis, “Bertolt Brecht. A Marxist in times of confusion,” in Mπέρτολτ Μπρεχτ. Για τους σεισμούς που μέλλονται να ‘ρθουν (Bertolt Brecht. In the earthquake which will come) (Athens: sep.publications, (Σύγχρονη Εποχή), 2013), 161-174.

[9] Brecht. Ibid., viv.

[10] Brecht, Ibid., 209-210.

[11] Brecht, Ibid, 278.

[12] Ibid.

[13] Ibid., 227.

[14] Ibid.

[15] Brecht, Ibid., 211.

[16] Brecht, Ibid., 243.

[17] Brecht, Ibid., 244.

[18] Brecht, Ibid., 297.

[19] Brecht, Ibid., 298.

[20] Brecht, Ibid., 262-63.

[21] Brecht, Ibid., 306-7.

[22] Brecht, Ibid., 308.

[23] Ibid.

[24] Karl Marx, Grundrisse (New York: Random House, 1973).

[25] The English edition cited here is Dante Alighieri, The Divine Comedy (Oxford: Oxford World’s Classics, 2008).

[26] Plato, Republic, Books 1-5 (Loeb Classical Library, 1930), 509d-511e. The allegory of the cave follows the Socratic narrations of the allegory of the sun (508b-509c) and the allegory of the line (509d-511e). The allegory of the cave extends from 514a-520a in Plato’s Republic.

[27] “Qui si convien lasciare ogni sospetto; ogni vilta convien che qui sia morta.” (Here you must leave all worries behind; All trace of cowardice must be extinguished.), Canto III, in Dante, 56.

[28] Marx, Critique of Hegel’s Philosophy of Right (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie).

[29] Brecht, Ibid., 209.

[30] Brecht, Ibid., 263.

[31] Brecht, Ibid., 298.

[32] NKUA is the abbreviation referring to the National Kapodistrian University of Athens, Greece. The theatrical team Δρυς (Dris) which performed the St. Joan in 2008 was formed by the Cultural Students Group of the National Kapodistrian University of Athens. The performance took place under the direction, stage design, and editing of Anna Lazou, assistant professor of Philosophy in the NKUA, Marlene Kaminsky, author and actress, and Georgina Kakoudaki, teacher of theatrical studies and actress. The original music was composed by Antonis Chatziantoniou, Ioannis Matagos, Menelaos Melios and Shana, costumes were designed by François-Dangon, videos were filmed by Maria Missin, and Dora Vassilopoulou provided all technical support. The political review of the Communist Youth of Greece Organization, O Οδηγητής (2008) wrote: “[…]Theatre lies on collaboration. In times of individualism of modern societies, it is a hopeful prospect witnessing a team work of young people, pursuing common goals and sharing the mere excitement. One helps the other, learning together, completing one another,” 32-33.

[33] Margaret Eddershaw, Performing Brecht. Forty years of British performances (London: Routledge, 1996) and David Barnett, Brecht in Practice. Theatre, Theory and Performance (London: Bloomsbury, 2019) helped us in understanding Brecht.

[34] Brecht, Ibid., 311.

[35] An interesting approach on historicization in Greek scholarship on Brecht is Michalis Georgiou, “The role of history in Brechtian dramaturgy,” in Mπέρτολτ Μπρεχτ. Για τους σεισμούς που μέλλονται να ‘ρθουν (Bertolt Brecht. In the earthquake which will come) (Athens: sep.publications (Σύγχρονη Εποχή), 2013): 223-236. In English Fredric Jameson, Brecht and Method (London: Verso, 1999) and Barnett, Brecht in Practice, 2019 are of great importance to the formation of our approach.

[36] Anthony Squiers, “The social and political philosophy of Bertolt Brecht” (Diss., Western Michigan University, 2012).

[37] Mumford, Bertolt Brecht, 60-67, and Barnett, Brecht in Practice, 9-35, 83-85.

[38] Bertolt Brecht, Brecht on Performance: Messingkauf and Modelbooks (London: Bloomsbury, 2019): 152-237, 238-262.

[39] Although few citations focus on the significance of Brecht’s philosophy in Greek scholarship, an important reference is A. Ioannatou, “The philosophical sources of Bertolt Brecht’s opus” (2013), 149-160.

[40] Brecht, Ibid., 308.

[41] Bertolt Brecht, “Die dialektische Dramatik,” BFA 21: 431-3.

[42] Bertolt Brecht, “Vergnügungstheater oder Lehrtheater?” BFA 22: 106-16.

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Thekla Neuß

Im Nachhinein. Zur filmischen Dokumentation der Inszenierung des Urfaust (Brecht/Monk, Potsdam/Berlin, 1952/53)

Entlang der Auseinandersetzung mit der filmischen Aufzeichnung einer Inszenierung des Urfaust von Egon Monk und Bertolt Brecht entwickelt der folgende Artikel einige Fragen zu audiovisueller Theaterdokumentation und versteht sie dabei als Herausforderung politischer und theaterhistoriographischer Praxis. Entgegen einer Funktion des Archivs, Erinnerungen “unter Hausarrest zu stellen,”1 schlage ich vor, gerade ein für ein Archiv produziertes Dokument als Instrument einer erinnerungspolitischen Exterritorialisierung zu verstehen.

Im Zentrum der Auseinandersetzung um filmische Aufzeichnungen und die Archivierung von Theater steht nicht selten die grundlegende Einsicht in die Flüchtigkeit von Aufführungen. Der Verlust eines Ereignisses, der ästhetischen und gemeinschaftlichen Erfahrung der Aufführung, zumindest aber seiner rezeptionsästhetischen Synchronität wird damit gerne zu einem essentiellen Signum der Unterscheidung von Theater und anderen Künsten erhoben, deren Charakteristik in der Herstellung materieller und damit bewahrbarer Objekte besteht. Daraus ergibt sich ein ambivalentes und folgenreiches Verhältnis insbesondere zu Praxis und Material audiovisueller Theaterdokumentation, das aktuell auch die Diskussionen um das Aufzeichnen und Live-Streamen von Theateraufführungen unter Pandemiebedingungen sowie um den Umgang mit den dafür verwendeten und produzierten Dokumenten bestimmt. Während im Kontext von Performance oder Live Art eine kritische Auseinandersetzung mit der behaupteten Objektlosigkeit und Nicht-Dokumentierbarkeit von Aufführungen/Performances stattgefunden hat, scheint gerade die audiovisuelle Aufzeichnung als eine für Theateraufführungen signifikante Dokumentationsform unter Verdacht zu stehen, dem Theater als Kunstform nicht gerecht zu werden und seine Essenz der öffentlichen Darbietung vor Publikum, mithin also eine spezifische Produktion von Öffentlichkeit, zu verfehlen. Digitale bzw. hybride Formate, die mit Zeitlichkeiten jenseits der gemeinsam verbrachten Präsenzzeit spielen, werden zwar als künstlerische Innovationen verhandelt, beginnen allerdings gerade erst, als Theater jenseits der “leiblichen Ko-Präsenz” Anerkennung zu finden und werden als Intervention in ein theatrales Dispositiv der Gleichzeitigkeit diskutiert. Der epistemische Status audiovisueller Aufzeichnungen ließe sich dementsprechend vorläufig – und oftmals angesichts unscharfer, verwackelter, zu dunkler oder fernsehgerecht geschnittener Filmbilder – mit der oft gehörten Äußerung “So war es, aber eigentlich ganz anders…,” auf den Punkt bringen.

Das bereits seit einigen Jahren virulente Interesse am Begriff des Archivs, dokumentarischen Ästhetiken und Dokumentarismen im Theaterfeld geht nur selten synchron mit einem Interesse für die Aufbewahrung und Systematisierung von audiovisuellen Materialien. Problematisch wird dieses aufmerksamkeitsökonomische Defizit, wenn Materialbestände unübersichtlich werden und damit ihr Fortbestand unsicher. Ein Aspekt dieser Unsicherheit im Umgang mit AV-Beständen besteht sicherlich in ihrem prekären Verhältnis zu einem Verständnis von der Aufführung als undokumentierbar, die sich im Umgang mit dokumentarischem Material reflektiert: Die Frage aber, ob eine Aufzeichnung eine Aufführung voll und ganz wiedergeben kann, wird immer negativ beantwortet werden. Die Frage erscheint mir insofern nicht ganz richtig gestellt, bzw. geht sie am dokumentarischen Material, dessen Ästhetik und Funktion vorbei, wie ich an der Aufzeichnung des Urfaust nachvollziehen möchte. Die von der SED-Kulturpolitik scharf kritisierte Inszenierung (Premiere: 23.04.1952, Landestheater Brandenburg in Potsdam; 13.03.1953 in Berlin) wurde nach wenigen Vorstellungen vom Spielplan des Deutschen Theaters gestrichen. Die daraufhin angefertigte filmische Aufzeichnung zeigt keine Aufführung vor Publikum, sondern entstand unter widrigen technischen Bedingungen in einem Probenraum. Bei aller Zufälligkeit dokumentiert sie den Kontext einer historischen Auseinandersetzung um die Normativität national gerahmten Kulturerbes und markiert ein produktives Spannungsfeld von dokumentarischer Praxis, Kulturerbepolitik und Exilerfahrung. Sie erinnert dabei nicht zuletzt an kritische Interventionen in die deutsche Aufbauerzählung in Ost (und West) nach 1945 durch aus dem Exil zurückkehrenden Künstler:innen. Der Aufzeichnung eignet insofern auch ein interessantes Problem hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit: Wiederholte nicht die Lesart dieser Aufzeichnung als nachträgliches und damit defizitäres Relikt einer verlorenen Aufführung implizit die maßregelnde Zensurhandlung, die darauf angelegt ist, eine Aufführung zum Verschwinden zu bringen?

Zwischen Exilerfahrung und nationalem Erbe: “Das Faust-Problem und die deutsche Geschichte”2

Brecht und sein Assistent Monk sind zu Beginn der 1950er Jahre nicht die Einzigen, die mit einer theatralen Bearbeitung des Fauststoffes mit den politisch-ästhetischen Realismusvorgaben der DDR-Kulturpolitik kollidieren, auch Hanns Eislers Opernlibretto Johann Faustus gerät ein halbes Jahr nach dessen Erscheinen (Aufbau-Verlag, Oktober 1952) ins Visier der DDR-Kulturpolitik. Innerhalb weniger Wochen – vom 10. Mai bis 13. Juni 1953 – wird in drei Sitzungen der sogenannten Mittwochsgesellschaft der Akademie der Künste über dessen politische und ästhetische Qualität diskutiert und Eisler daraufhin vom Generalsekretär des ZK der SED Walter Ulbricht Nachlässigkeit im Umgang mit dem kulturellen Erbe der Nation vorgeworfen. Das bereits im Oktober 1952 in Buchform veröffentlichte Manuskript wird daraufhin vom Verlag zurückgezogen. Die Idee zur Bearbeitung des Faust-Stoffes war wohl auch durch Eislers Bekanntschaft mit Thomas Mann angeregt worden, der seinerseits zwischen 1943 und 1947 im US-amerikanischen Exil an seinem Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde arbeitete. Dem Schreiben des Romans gehen weitläufige Recherchen u.a. zum Thema Musikkomposition voraus, für die Mann den Rat von Hanns Eisler einholt, der nach der Ankunft Brechts in Kalifornien 1942 von New York nach Los Angeles übergesiedelt war. Der Komponist gehört zu den ersten Lesern von Manns Roman. Sein eigenes Opernlibretto, das weniger von Goethes Bearbeitung denn von den Puppenkomödien, den beiden alten deutschen Volksschauspielen, von Christoph Wagner Fausts Famulus von 1890 und Das Puppenspiel vom Doktor Faust sowie von dem Buch Die Historia von D. Johann Fausten inspiriert ist, bleibt nach den Ereignissen im Frühjahr 1953 unvollendet.3 Auch Brechts Beschäftigung mit den sogenannten Klassikern datiert auf seine Zeit im Exil. In den Jahren davor galten sie ihm bestenfalls als Materiallieferanten.4

Bekanntermaßen ist keine Figur der deutschsprachigen Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert von so entscheidendem, wenngleich wechselvollem, nationalpädagogischen Charakter wie die des Universalgelehrten Faust. Nicht nur in der NS-Zeit, in der sie u. a. für die Nobilitierung geopolitischer Raumansprüche bemüht wurde, diente sie der Charakterisierung des “Deutschen Wesens.”5 Unter dem Stichwort der “Aneignung” war die Bearbeitung des volkstümlichen Stoffs durch Goethe auch für die junge DDR trotz oder gerade wegen ihrer paradigmatischen Bedeutung für die Weimarer Klassik ein zentraler kulturpolitischer Bezugspunkt.6 Von der Anknüpfung an humanistische Ideale der Klassik versprach man sich einerseits die Möglichkeit der politischen Versöhnung von “Arbeitern” und “Bauern” mit einem “fortschrittlichen” Teil des deutschen Bildungsbürgertums – mit dem erklärten Ziel der Bildung einer antifaschistischen Einheitsfront auf dem Gebiet der Kultur. Andererseits ermöglichte die Formel von der “Aneignung” des kulturellen Erbes die Konstruktion einer Traditionslinie von der Weimarer Klassik bis zum Aufbau eines sozialistischen Staats, als dessen Aufgabe die noch ausstehende Verwirklichung des Humanismus formuliert wurde. Besonders nach 1945 war im Osten wie im Westen gleichermaßen entscheidend, auf welche Weise an deutsches Erbe angeknüpft werden konnte. Im Osten avanciert in diesem Kontext die Wendung von der “Aneignung des Erbes” von einem Streitpunkt der Humanismus-Debatten des Exils zu einem Schlüsselbegriff der DDR-Kulturpolitik, die Pflege des nationalen Kulturerbes wird zum erinnerungspolitischen Imperativ eines sozialistischen Humanismus.

Dass die dafür proklamierte Vision der antifaschistischen Einheitsfront zwischen Bildungsbürgertum und Arbeiterstaat, aber auch zwischen Exilant*innen und DDR-Kulturpolitik sich nicht verwirklicht, wird nicht zuletzt an der Auseinandersetzung um die Faustbearbeitungen von Eisler und Brecht deutlich. Denn während die Exilerfahrung nicht nur deren verbindenden biographischen Hintergrund darstellt, nimmt die öffentliche Kritik im Fall Eislers direkten Bezug auf dessen Exilvergangenheit, um daraus ein politisches Argument gegen seinen Text zu formulieren. So heißt es hinsichtlich der beanstandeten formalistischen Tendenzen des Librettos im Neuen Deutschland, der Komponist habe die “Einflüsse des heimatlosen Kosmopolitismus noch nicht überwunden,”7 ein Vorwurf, der nicht von ungefähr einen gängigen antisemitischen Topos bedient und damit Kontinuitäten deutschen Erbes deutlich macht, die im antifaschistischen Aufbauprojekt Ost allzu oft geleugnet wurden.

Ähnlich wie Eisler nimmt Brechts/Monks Inszenierung entgegen der offiziellen Erbepolitik nicht Goethes Faust I als Grundlage, sondern beschäftigt sich mit dem Urfaust. Schon nach der Premiere in Potsdam schreibt die Märkische Allgemeine:

Wir sind der Meinung, daß bei der kritischen und schöpferischen Aneignung unseres Kulturerbes die wahren humanistischen Ideen unserer Klassiker in Erscheinung treten müssen, um eine positiv aktivierende Wirkung beim Publikum auszulösen. Die Konzeption des Regisseurs Monk jedoch ließ erkennen, daß er das Negative, Dekadente an jeder handelnden Figur in den Vordergrund schob. […] Der Regisseur der “Urfaust”-Inszenierung hat mit dieser Inszenierung zweifellos ein künstlerisch einwandfreies, hochinteressantes Experiment gemacht, das in seiner Auswirkung aber sowohl für das Publikum, als auch für die Theaterschaffenden außerordentlich gefährlich ist.8

Die Kritiken nach der Berliner Premiere ein Jahr später sind vernichtend. Während das Neue Deutschland darin “anti-nationale” Tendenzen erkennt,9 dient sie Walter Ulbricht zusammen mit Eislers Opernentwurf als Negativbeispiel einer fehlgeleiteten Klassikerinszenierung. In einer Rede am 27.05.1953 lautet sein Urteil:

Unseren Kampf führen wir […] auch um die Pflege unseres großen deutschen Kulturerbes […], indem wir es nicht zulassen, dass eines der bedeutendsten Werke unseres großen deutschen Dichters Goethe formalistisch verunstaltet wird, dass man die großen Ideen in Goethes Faust zu einer Karikatur macht, wie das in einigen Werken auch in der DDR geschehen ist, zum Beispiel in dem sogenannten Faustus von Eisler und in der Inszenierung des Urfaust.10

Die Inszenierung wird in der Folge nach wenigen Vorstellungen abgesetzt.11

Jetzt kommen ein junger Mann und seine Kamera ins Spiel: Hans Jürgen Syberberg, später kontrovers besprochener Film- und Theaterregisseur in der BRD und Bewunderer der Arbeit Brechts. Syberberg, 17-jährig, besitzt Anfang der 1950er Jahre einige Kameras und reist immer wieder aus Rostock zum Berliner Ensemble. Die Bekanntschaft Brechts hatte er durch die Vermittlung Benno Bessons gemacht, der seit 1952 wiederholt am Rostocker Volkstheater inszeniert hatte. Schon vor der Urfaust-Aufnahme hatte Syberberg einige Vorstellungen aus der Proszeniumsloge des Deutschen Theaters, in dem das Berliner Ensemble bis 1954 gastiert, gefilmt. Die Filme dienten der Unterstützung der weiteren Arbeit an den Inszenierungen, waren gleichermaßen technisches Experiment wie Weiterentwicklung von Brechts Modellbuchpraxis. Ein Jahr nach der Absetzung der Urfaust-Inszenierung wird die Produktion in einem Probenraum für die Kamera aufgeführt.12 Syberberg filmt mit einer kleinen Schmalfilmkamera: Die Eumig C4 (1937) ist die erste Amateur-Schmalfilmkamera, die nicht alle sieben bis acht Sekunden aufgezogen werden muss. Sie läuft mit einer kleinen Taschenlampenbatterie, die es erlaubt, zweieinhalb Minuten des Super 8 Films mit einer Aufnahmegeschwindigkeit von 16 Bildern pro Sekunde ablaufen zu lassen. Um den Lärm des durchlaufenden Films zu minimieren, verpackt Syberberg sie in einen Schuhkarton. Die Eumig verfügt nur über einen Fixfokus; dank der besonderen Aufnahmesituation im Probenraum kann Syberberg, ohne eine Vorstellung zu stören, auf der Bühne filmen. Dabei haben die Einfachheit der Technik und die Unprofessionalität des Kameramanns einen entscheidenden Vorteil: Der jugendliche Syberberg und seine improvisierte Kamera fallen durch alle Raster staatlicher Kontrolle: “Ich finde das ein bisschen wie eine Brechtsche List, nämlich sich der kleinsten Mittel zu bedienen, der schlichtesten und der einfachsten, um die Dinge zu erreichen, die er wollte.”13

Durch ihre Absetzung wird die Urfaust-Produktion zu einer der am besten filmisch dokumentierten Inszenierungen Brechts. Mit dem Festhalten auf Film gerät die abgesetzte Inszenierung unter der Hand in Bewegung. Während die Originalaufnahmen mittlerweile im Archiv der Akademie der Künste Berlin bzw. der Deutschen Kinemathek liegen, ist die Aufzeichnung gemeinsam mit Ausschnitten aus den Inszenierungen von Herr Puntila und sein Knecht Matti und Die Mutter in einem von Hans-Jürgen Syberberg produzierten Zusammenschnitt popularisiert worden, der mehrere Bearbeitungsschritte durchlaufen hat. Eine erste in den 1970er entstandene und mit einem Kommentar des Regisseurs und des Brecht-Experten Hans Mayer versehene Bearbeitung trägt nicht umsonst den Titel Nach meinem letzten Umzug…, der einerseits ganz konkret Bezug auf Syberbergs Umsiedlung nach Westdeutschland nimmt und andererseits auf die zufällige Wiederentdeckung der in seinem Besitz verbliebenen Filmrollen. Zudem ist damit der prekäre Status von Filmmaterial angesprochen, das zum Erhalt seiner Abspielbarkeit auf die fortwährende Migration von einem Datenträger auf den nächsten angewiesen ist. Der Titel weist aber auch auf Beweglichkeit der Aufzeichnung hin und damit die inszenatorischen List, die Intervention in staatliche Erbepolitik noch in das Dokument ihres Verbots einzuschreiben.

Tausch- und Gebrauchswerte von Theateraufzeichnungen

Hinsichtlich der Frage, auf welche Weise je spezifische dokumentarische Verfahrensweisen und Instrumente Wirklichkeitseffekte zeitigen, formulierte bereits Walter Benjamin: “Dem Verhältnis von Überlieferung und Vervielfältigungstechnik ist nachzugehen.”14 Gemeint ist damit insbesondere die Vervielfältigung der Techniken der Aufzeichnung selbst, insofern als für die historiographische Praxis im 20. Jahrhundert die Autorität der Schrift neben fotografischen und kinematographischen Techniken zu einem Instrument der Weltbezeugung unter anderen wird. Die historische Sinnstiftung wird herausgefordert durch den dokumentarischen Blick der Kamera und die Distributionsdynamiken der Bilder – sowie eine durch diese Neuerung hervorgerufene Vervielfältigung der Bilder und Aufzeichnungen und deren Zirkulation, durch die andere Überlieferungskontexte und medial vermittelte Nähe- und Distanzverhältnisse produziert werden. Als Reaktion auf eine Flut technisch generierter Bilder entwickelt Benjamin eine historiographische Theorie des Destruktiven, deren Grundzüge auch für die Aufzeichnung des Urfaust interessant sind. In “Der destruktive Charakter” (1931) unterscheidet Benjamin zwei unterschiedliche Überlieferungsstrategien, wovon er die erste als museal, die zweite als destruktiv bezeichnet: “Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie sie handlich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven.”15 Die ambivalente Figur der Destruktion verweist bei Benjamin auf die produktive Konstruktion von Geschichte qua ihrer medialen Bedingungen, die Benjamin im Hinblick auf den Film zuspitzt, dem er die Funktion einer Umwertungsmaschine zuschreibt: “Die aus ihrer auratischen Distanz in die Nähe gebrachten Werke können einer neuen Verwertung zugeführt werden, indem sie aus dem Traditionszusammenhang herausgelöst werden. Darin liegt die ‘positivste Gestalt’ des Films, seine destruktive, seine kathartische Seite […]: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe.”16 Benjamins geschichtstheoretische Schriften sind gleichermaßen von der Reflexion technischer Verfahren sowie der Reflexion ästhetischer Voraussetzungen geprägt. Sein Vorgehen orientiert sich dabei an Brechts Überlegungen zum epischen Theater, dessen Theorie und Praxis des Verfremdungseffekts von Schnitt- und Montageverfahren in Fotografie und Film inspiriert sind und ein ganz eigenes Realismusverständnis etablieren, dessen Status sich weniger an einer (vermeintlich) archivarischen Logik der Originalität und Einzigartigkeit des Materials denn an dessen Potential zur Wirklichkeitsvermittlung bemisst. Das montierte, de- und rekontextualisierte Material erhält seinen Beweiswert im Prozess seiner Verwendung. Seine Authentizität wird insofern nicht durch seine Provenienz verbürgt, sondern durch seinen Gebrauch.

Geht man von dieser Theorie aus, steht bei der Aufnahme des Urfaust nicht die Arretierung eines flüchtigen leiblich konkreten Bewegtbildes, die der ursprünglichen Ephemeralität der Aufführung entgegensteht, im Zentrum. In der Aufnahme wird weder die originale Aufführung konserviert, noch etwas Echtes verfälscht. Im Modus der Aufzeichnung wird vielmehr die Erwartung von Ephemeralität selbst als historischer Zusammenhang erkennbar, den man mit einem Satz aus Jacques Derridas vielzitiertem Essay “Dem Archiv verschrieben” konkretisieren kann: “Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet.” Zugleich erinnert der Rekurs auf Benjamins Konstruktionstheorie, die in ambivalenter Korrespondenz mit den Möglichkeiten massenmedialer Technologien entwickelt wird, an die Einbindung künstlerischer Produktion in die Dynamiken ökonomischer Zirkulation. Diese Dimension, die in kritischer Selbstreflexion auch Potential für Kritik bedeutet, bleibt unbedacht, wenn man wie die Performancetheoretikerin Peggy Phelan Aufführungen als undokumentierbar betrachtet:

Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. […] Performance refuses [the] system of exchange and resists the circulatory economy fundamental to it. […] Performance’s independence from mass reproduction, technologically, economically, and linguistically, is its greatest strength.17

In dieser scharfen Abgrenzung von den “Massenmedien” kommt vor allem ein Spezifikum der Performance bzw. Live Art zum Tragen, die sich um eine kritische Medienspezifizität (“media specificity”) bemüht. Mit der Frage nach der Dokumentation von Kunst ist in diesem Kontext auch immer die Frage nach ihrem Marktwerk gestellt. Peggy Phelans nachdrückliche Betonung der Liveness von Performances ist als kritische Intervention in einen globalen Kunstmarkt zu verstehen, der in den 1990er Jahren beginnt, Performances als Kunstform zu vermarkten und v. a. Strategien der Sammelbarkeit zu entwickeln. An dieser Stelle zeigt sich ein signifikanter, institutioneller Unterschied zwischen “Performance Documentation,” deren Erzeugnisse von Institutionen der Bildenden Kunst überliefert werden, und den Mengen oft kaum bekannter filmischer Dokumentationen in theatersammelnden Institutionen bzw. Theaterhäusern ohne spezifischen Sammlungsauftrag oder Sammlungsinteresse, die kaum in monetären Wert umgesetzt werden können.18 Zugleich werden mit einer Politik der Undokumentierbarkeit auch der politische Status von Dokumenten als Beweis, als faktischer und medialer Gegenentwurf sowie ihr Potential als Erinnerungsfiguren negiert.

…aber eigentlich ganz anders

Die Aufzeichnung des Urfaust lässt sich vor dem Hintergrund von Exilerfahrung und nationalem Erbeanspruch auch als ein Dokument einer medialen Exterritorialisierung lesen. Jenseits eines hermeneutischen Geschichtsverständnisses, aber auch ohne die Aufgabe historischer Sinnbildung zugunsten technischer Akkumulationsprozesse, erscheint die theaterdokumentarische Aufzeichnung als Dokument, das sich nicht nur innerhalb eines Brechtschen Kosmos der Modellbildung ansiedeln lässt, sondern Kontexte der Unordnung und Entortung der Exilerfahrung aufruft, die in die vorübergehende Dauerhaftigkeit einer Filmaufnahme übersetzt werden. Sie markiert und überschreitet damit gleichermaßen “Grenzen, die den Gedächtnisspeicher des nationalen Kulturerbes bestimmen.”19 Dabei eignet ihr eine dokumentarische Zeitlichkeit jenseits starker Grenzen von Erinnerung und Vergessen, Präsenz und Absenz. Damit verweist dieses filmische Dokument auch auf die Grenzen eines vereinheitlichenden Begriffs von Archiven als staatstragende Gedächtnisinstitutionen: Die Aufzeichnung stellt eine Intervention in die Behauptung einer Aneignung der Tradition dar, sowie eine Unterbrechung einer konstruierten geschichtlichen Linie zwischen dem sozialistischen Aufbauversprechen der DDR im Rekurs auf die Weimarer Klassik entlang eines humanistischen Nationalerbes.

Für ihre Theorie des kulturellen Gedächtnisses, in der sie die Instanzen Geschichte und Erinnerung miteinander vermittelt, hat Aleida Assmann zwischen zwei Formen desselben unterschieden: zwischen dem Speichergedächtnis und dem Funktionsgedächtnis. Während sie das Speichergedächtnis Archiven und anderen Sammlungsinstitutionen zuschreibt, besteht das Funktionsgedächtnis in der Übersetzung und damit fortlaufenden Aktualisierung der Gedächtnisinhalte. Damit ist eine entscheidende erinnerungspolitische Dimension angesprochen, die unterschiedliche Strategien der Vergegenwärtigung von Vergangenheit und deren Umprogrammierung zu Geschichte verdeutlicht.20

Auch wenn die Unterscheidung zwischen den beiden Sphären, bei Assmann psychoanalytisch fundiert, durchlässig ist und sich zwischen ihnen Austausch- und Übersetzungsbewegungen abspielen, formuliert sie damit ein Gedächtniskonzept, das von den Oppositionen von Vergessen und Erinnern sowie von Präsenz und Absenz gekennzeichnet ist. Ein Spannungsverhältnis, das mir auch für die aktuelle Diskussion um filmische Aufzeichnungen von Theater relevant erscheint, für deren Bewertung, wie beschrieben, noch immer fast ausschließlich der Verlust einer eigentlichen, nicht mehr zu erreichender Erfahrung geltend gemacht wird.

Eindrücklich beschreibt Assmann entlang dieser Unterscheidung den prekären Status von in Archiven abgelegten Materialien. Sie befänden sich:

in einem Purgatorium zwischen dem Inferno des Vergessens und dem Paradiso des Erinnerns. Sie existieren in einem Zustand der Latenz, einem Wartezustand zwischen den Zeiten; sie warten darauf, dass Spezialisten, Journalisten oder Künstler kommen, die in diesem Fundus Ausgrabungen machen, etwas entdecken und es ins allgemeine Bewusstsein zurückholen.21

Für die theaterdokumentarische Aufzeichnung von Brechts und Monks Urfaust zwischen Exilerfahrung und nationaler Erbepolitik scheint mir das Purgatorium nicht nur eine Zwischenstation, um in der Abstraktion einer allgemeinen Öffentlichkeit aufzugehen, vielmehr wird das Dazwischen, damit auch die Absage an die Festlegung auf den Kontext einer an nationale Bedingungen gebundenen Erbekonstruktion, zu ihrem entscheidenden Aufenthaltsort: Ihr Gebrauchswert besteht gerade in der Markierung einer erinnerungspolitischen Latenz. In ihrer Funktion als Dokument erinnert die Aufzeichnung des Urfaust an die Realität von Erfahrungen, die in der politisch und technisch normierten Gestalt eines Kanons nationalen Kulturerbes, sowie in den Aktualisierungen eines kulturellen Gedächtnisses nicht aufgehen. Ihr dokumentarischer Wert könnte insofern insbesondere in der produktiven Wendung des “so, aber eigentlich ganz anders” liegen, die weniger die Identität des Gewesenen und dessen Verlust bezeugt, als die Bedingungen für Auseinandersetzungen in der Zukunft zu gewährleisten kann.

[1] Jacques Derrida, Archive Fever: A Freudian Impression (Chicago: University of Chicago Press, 1995), 2.

[2] So der Titel eines die Diskussionen kommentierenden Zeitungsartikels: Die Redaktion, “Das Faustproblem und die Deutsche Geschichte,” in Neues Deutschland (14.05.1953).

[3] Friederike Wißmann, “Johann Faustus. Eislers Materialien und die Komposition des Textes,” in Hanns Eislers Johann Faustus. 50 Jahre nach Erscheinen des Operntexts 1952, hg. von Peter Schweinhardt (Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2005), 13-16.

[4] Bernd Mahl, Brechts und Monks Urfaust-Inszenierung mit dem Berliner Ensemble 1952/53. Materialien, Spielfassung, Szenenfotos, Wirkungsgeschichte (Stuttgart: Schriftenreihe der Goethe-Gesellschaft, 1979), 12.

[5] Vgl. z. B. Karl Engelbrecht, Faust im Braunhemd (Leipzig: Adolf Klein, 1933).

[6] Gregor Streim, “‘Große Ahnen’ und ‘erbärmliche Erben’. Die Begründung des ‘sozialistischen Humanismus’ in den literarischen Debatten des Exils,” in Humanismus in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, hg. v. Matthias Löwe u. Gregor Streim (Berlin: De Gruyter, 2017), 193-214.

[7] “Das Faustproblem und die Deutsche Geschichte.”

[8] Mahl, Brechts und Monks Urfaust-Inszenierung, 190f.

[9] Johanna Rudolph, “Weitere Bemerkungen zum Faust-Problem. Zur Aufführung von Goethes Urfaust durch das Berliner Ensemble,” in Neues Deutschland (28.05.1953).

[10] Aus einer Rede Walter Ulbrichts, dokumentiert in Walter Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (Berlin: Dietz, 1954), 604.

[11] An der Absetzung der Inszenierung lässt sich eine Spielart staatlicher Zensur verdeutlichen, die nicht von offiziellen Stellen angeordnet, sondern von den Akteur*innen selbst vollzogen wird. Dazu meint Egon Monk: “Die Absetzung ist, soweit ich weiß, nie öffentlich begründet worden. Jedoch sind die Gründe leicht zu erraten. Sie stehen in der […] Rezension im ‘Neuen Deutschland’ vom 28.05.1953, die einer Nötigung gleichkam.” Vgl. Mahl, Brechts und Monks Urfaust-Inszenierung, 200.

[12] Die Auswahl und Durchführung der Aufzeichnung von Theateraufführungen für das Staatsfernsehen oblag normalerweise der Verantwortung der DEFA, was im Fall des Urfaust natürlich nicht in Frage kam.

[13] Aussage von Hans Jürgen Syberberg, vgl. Transkript der Veranstaltung “Der Abend des Films,” Berlin 1998, in Sg. Monk 638, Egon-Monk-Archiv, Archiv der AdK Berlin.

[14] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V.1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991), 586.

[15] Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, 398. Eine Variation dieser Gegenüberstellung, so denke ich, entwickelt Giorgio Agamben in Profanierungen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005).

[16] Benjamin, Gesammelte Schriften, 353 f.

[17] Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance (London: Routledge, 1993), 146, 149.

[18] Dabei handelt es sich hier natürlich um eine Verallgemeinerung, die sich vor allem auf die “Größen” der Performance Art bezieht. Zudem hat sich erst in den letzten Jahren ein oftmals von Künstler*innen angeregtes Interesse an der Dokumentation und Archivierung von Performance entwickelt und institutionell durchgesetzt. Im Kontext der Produktion entsteht zudem ein verzerrtes Bild, wenn man die finanzielle Kraft von musealen Institutionen auf den Plan ruft: So sind doch gerade im deutschsprachigen Raum viele Theater hoch subventioniert und arbeiten, zumindest zu einem großen Teil, noch mit festen Ensembles. Wohingegen international arbeitende Performancekünstler:innen oftmals von Stipendien und Residenzen abhängig sind. Allerdings gilt: Im Gegensatz zum Theater beziehen Museen ihr Kapital, neben ihrer globalen Vernetzung, maßgeblich aus ihren Sammlungen, mithin aus der Qualität ihrer Archive. Zum Verhältnis von Ökonomie und Museumsdepots vgl. z. B. Bénédicte Savoy, “Unschätzbare Meisterwerke. Der Preis der Kunst im Musée Napoléon,” in Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums (Köln: Vandenhoeck-Ruprecht, 2014), Bd. 2, 407-418 und Julia Voss, Hinter weißen Wänden = Behind the White Cube (Berlin: Merve, 2015).

[19] Sylvia Asmus et al., “Einleitung,” in Archive und Museen des Exils (= Exilforschung Bd. 37) (Berlin: De Gruyter, 2019), 3.

[20] Diana Taylor hat für diesen Zusammenhang für postkoloniale Kontexte die von Theatervokabular inspirierten Begriffe “archive” und “repertoire” etabliert. Vgl. Diana Taylor, The Archive and the Repertoire: Performing Cultural Memory in the Americas (Durham: Duke University Press, 2003). Hinsichtlich des (post-)kolonialen Kontext ihrer Arbeit geht es Taylor weniger um die Betonung einer einigenden gesamtgesellschaftlichen Gedächtniskultur denn um das Aufzeigen von Brüchen, Grenzziehungen und Allianzen.

[21] Aleida Assmann, Formen des Vergessens (Göttingen: Wallstein, 2016 ), 41.

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Olesya Ivantsova
“Literarisierung des Straßenbildes”: Bertolt Brecht’s Reflections on the Written Word’s Presence in the City Space

The notion of literarization of space in Bertolt Brecht’s writings represents a unique take on the concept of city as text. In literary studies, as well as in urban studies, the metaphorical concept of the “city text” or “city as text” refers to numerous ways in which the city and urban experience can be constructed, perceived, and presented. I argue that Brecht’s ideas on integrating literary text into architecture embody the concept of city as text in the most concrete way, based on the physical presence of the written word in the city space.

Initially, Brecht explored literarization while developing his conception of the theater. “Die Literarisierung bedeutet das Durchsetzen des ‘Gestalteten’ mit ‘Formuliertem,'” he explained in “Anmerkungen zur Dreigroschenoper,” written in 1930 (BFA 24: 58). For example, Die Dreigroschenoper featured banners stretched across the stage that commented on the action of the scene and provided the linkage between the individual scenes. Another of Brecht’s text, written in 1937, is titled “Über die Literarisierung der Bühne” and describes literarization as follows: “Sprüche, Fotografien und Sinnbilder stehen um die agierenden Personen. Dies ist ein Milieu von nicht geringerer Natürlichkeit als jedes andere. Nach Jahrhunderten allgemeiner Lektüre haben Inschriften Wirklichkeitscharakter angenommen” (BFA 22.1: 265-266). Here, Brecht expands his understanding of literarization: it is not just a staging device but rather a part of reality where people are constantly surrounded by slogans, pictures, and symbols, which became omnipresent elements of everyday life. This may sound like a depiction of existence in a capitalist country: wherever you look, you see an endless stream of advertisements. However, Brecht’s ideas of the literarization of space were inspired by a different ideology and developed during his visits to the first socialist country in the world: the Soviet Union.

Brecht’s first visit to the Soviets was in May 1932. He was invited to Moscow for the premiere screening of the movie Kuhle Wampe, oder Wem gehört die Welt (written and directed by Brecht, Ernst Ottwalt and Slatan Dudov). In his journal entry entitled “Moskauer Reise,” he reflects on the moment of crossing the Soviet border: “Der Spruch über die Grenze: vorn die Begrüßung der ausländischen Genossen. Hinten: ‘Die Revolution bricht alle Grenzen’. Literarisierung. […] Später fragen uns die russischen Genossen, was für Gefühle wir bei der Überschreitung der Grenze hatten, und bringen uns so etwas in Verlegenheit” (BFA 26: 297).

Soon thereafter, Brecht reworked his border-crossing experience in the poem “Fahrend über die Grenze der Union” that shows no trace of this embarrassment. In the poem, the literarization of space carried out by the different inscriptions on the opposite sides of the gate intensifies the contrast between the Soviet Union and the West:

Vaterlands der Vernunft und der Arbeiter
Sahen wir über den Schienengleisen
Ein Schild mit der Aufschrift:
Willkommen Arbeiter!
Aber zurückkehrend in das Land der Unordnung und der Verbrechen
Unsere Heimat
Sahen wir ein Schild für die Züge, die nach Westen fahren
Mit der Aufschrift:
Die Revolution
Bricht alle Grenzen. (BFA 14: 150)

Brecht’s second journey to the Soviet Union took place in 1935 on the invitation of the International Revolutionary Theatre Organization. In a letter to Helene Weigel, he reports that in Moscow he watched “eine Menge Theater und Film” (BFA 28: 495). Not surprisingly, in an interview that appeared in the Soviet German newspaper Deutsche Zentral-Zeitung, Brecht was quoted emphatically saying: “Nur eine Theaterstadt gibt es noch in der Welt: das ist Moskau” (BBA 1123/07).

This laudatory statement, however, can be seen not only as a characteristic of the rich cultural program or as a way to please his Soviet hosts. Indeed, the city itself provided Brecht with carefully staged performances which decisively influenced his concept of the literarization of space. During his time in Moscow, Brecht attended two major events: the festive opening of the first subway line in the Soviet capital on April 27th and a parade on Red Square devoted to International Workers’ Day on May 1st. Brecht depicted both events in poems; his impressions also formed the basis for a short article, “Über die Verbindung der Lyrik mit der Architektur,” written after that Moscow visit. In this text, Brecht analyzes the importance of the written word as a means to conquer, appropriate, and re-invent space. He describes “eine eigentümliche Literarisierung des Straßenbildes” of the Soviet cities:

Die sich die Herrschaft erobernde Klasse schreibt mit breitem Pinsel ihre Meinungen und Losungen auf die eroberten Gebäude. Auf die Kirchen schreibt es “Religion ist Opium für das Volk”, auf anderen Baulichkeiten stehen Gebrauchsanweisungen. […] Die Literarisierung hat sich in der Union eingebürgert. […] Bei der großen Maidemonstration [19]35 sah ich sehr schöne Embleme […] und viele Sprüche auf durchsichtigen Transparenten, so daß zu gleicher Zeit viele dieser Sprüche und Bilder sichtbar waren. (BFA 22.1: 140-141)

Margarete Steffin, who was on Red Square together with Brecht and other foreign guests, wrote in a letter to Arnold Zweig that the May parade made an enormous impression on the visitors (Steffin 140-141). Immediately after this celebration, Brecht started working on the poem “Demonstration der Moskauer Arbeiter auf dem Roten Platz am ersten Mai 1935”; however, it did not go beyond a fragment of a few lines (BFA 14: 288). Two years later, Brecht converted his impressions from this event into the poem “Der große Oktober” (subtitle: “Zum zwanzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution”). This poem also depicts a parade on Red Square but one that is part of a celebration of the October revolution anniversary.

Even though the celebration on Red Square started with a huge military parade, Brecht mentions it only briefly. The focus of his attention is the event’s second part, the procession of workers carrying symbols, pictures, and slogans, a perfect example of literarization:

Aber in Moskau, der berühmten Hauptstadt
Aller Arbeiter
Bewegt sich alljährlich über den Roten Platz
Der unendliche Zug der Sieger.
[…]
Auf breiten Tuchstreifen
Tragen sie ihre Losungen und
Die Bildnisse ihrer großen Lehrer. Die Tücher
Sind durchsichtig, so daß
All dies zugleich sichtbar ist.
Schmal, an dünnen Stecken
Wehen die hohen Fahnen.
[…]
Aber allen Unterdrückern
Eine Drohung. (BFA 12: 46)

Brecht was especially fascinated by the transparent banners that made it possible to see many inscriptions at once. Based on his poem, we can imagine how this might have looked. Thin, long banners with words, moving through Red Square – essentially, it is a text that consists of many lines and gradually covers the space. Brecht depicts the masses on Red Square as armed with ideology (expressed through the emblems and inscriptions on their banners). This ideological weapon has the potential to destroy all the exploitation and oppression in the world.

In the interview with the Deutsche Zentral-Zeitung, Brecht said that one of his most vivid impressions in Moscow was the realization of how powerfully the word had seized the masses: “Besonders fiel mir auf, wie stark das Wort die Massen ergriffen hat, wie es durch Losungen, Zitate, Bücher, Zeitungen, Versammlungen in das Bewusstsein gedrungen ist. Ich möchte es die Literarisierung der Massen nennen” (Deutsche Zentral-Zeitung, 23 May 1935, reprinted in Hecht 443).

Still, in Brecht’s opinion there was even not enough literarization in the Soviet capital, and he advocated for more. Specifically, poetry had to become an integral part of the city. In the same interview, he proclaims that “die Sowjetunion ist ein wunderbares Land für Lyriker,” but demands more presence of poetry in the Soviet cityscape: “In jeder Metrostation sollte in Stein gemeisselt ein literarischer Bericht über die Geschichte des Baues und über seine Helden zu lesen sein” (Ibid.).

Brecht refers here to a specific genre of poetry that he defined as “Chroniken” (chronicles) or “historisch berichtende Lyrik” (historical narrative poetry). His own poem about the festive opening of the Moscow subway belonged to this genre; it was written as a report in the form of a poem and had the title “Inbesitznahme der grossen Metro durch die Moskauer Arbeiterschaft am 27. April 1935” (BFA 12: 43-45). The concluding verse of the poem addresses a topic that was important for Brecht’s writings: workers and the fruit of their labor. A well-known example is the poem “Die Fragen eines lesenden Arbeiters” (also written in 1935): “In welchen Häusern / Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? / Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, / Die Maurer?” (BFA 12: 29).

In the Moscow subway poem, Brecht says that the most fascinating thing about the festivities was to see the construction workers enjoying the fruits of their efforts. “The classics” – Karl Marx and Friedrich Engels – had already foreseen this event a long time ago, emphasizes the author:

Wo wäre dies je vorgekommen, daß die Frucht der Arbeit
Denen zufiel, die da gearbeitet hatten? Wo jemals
Wurden die nicht vertrieben aus dem Bau
Die ihn errichtet hatten?
[…]
Dies ist das große Bild, das die Klassiker einstmals
Erschüttert voraussahen. (BFA 12: 45)

The only thing that Brecht laments is that the newly erected buildings in Moscow do not have appropriate inscriptions, as he states in his text “Über die Verbindung der Lyrik mit der Architektur”:

Die schönen Bahnhöfe der Moskauer Untergrundbahn haben riesige Marmorwände; sie könnten sehr wohl Gedichte tragen, die ihre mit so viel Heroismus verknüpfte Herstellung durch die Moskauer Bevölkerung beschreiben. So ist es auch mit den Grabstätten großer Revolutionäre in der Kremlmauer. Und mit den wissenschaftlichen Instituten, Sportpalästen, Theatern. (BFA 22.1: 141)

In this text, Brecht further develops the ideas on integrating the literary text into architecture, and calls for the literarization of city space through adorning architectural structures with poetry: “Ihre Beschriftung würde einen großen Aufschwung der Lyrik ergeben. […] Wettbewerbe müßten die Lyrik zu neuen Leistungen anspornen, und die späteren Generationen erhielten zusammen mit den Baulichkeiten die Anweisungen und den Schriftzug der Erbauer” (Ibid.).

A text engraved in stone becomes an integral part of the city, commemorates heroic deeds, and promotes the advancement of literature. Brecht expressed the same ideas in a poetic form: the sonet “Vorschlag, die Architektur mit der Lyrik zu verbinden” (1935):

Warum die schönen Baulichkeiten nicht beschriften
Die ihr da baut, Gewehre umgehängt?
Sie müßten tragen, in den Stein gesenkt
Den Namenszug der Klassen, die sie stiften.

Vermerkt auch den Gebrauch und: daß ihr nach ihm schautet!
Und daß er allgemein ist, grabt es ein!
Daß ihr zum ersten Male für euch selber bautet
Vermerkt’s auf dem euch überlebenden Gestein!

Und eure Dichter, die das Loblied nun
Auf die Verdienten singen (unter uns gesagt
Auch sie die ersten, die so etwas tun!)
Wenn sie der Steinmetz nach den Worten fragt
Dann werden sie ihm nur die besten schreiben:
Sie sehn, ’s ist mühsam, sie in Stein zu treiben. (BFA 14 301-302)

The poet’s dreams about the integration of poetry and architecture came true in another socialist capital: East Berlin. At the suggestion of the architect Hermann Henselmann, Brecht wrote inscriptions for the buildings on and near Stalinallee (later Karl-Marx-Alee) built in 1951-53 (“Inschriften für das Hochhaus an der Weberwiese,” BFA 23; 202-204). Haus Berlin has an inscription “Als wir aber dann beschlossen endlich unsrer Kraft zu trauen und ein schönes Leben aufzubauen haben Kampf und Müh uns nicht verdrossen”. The black marble from the destroyed Göring’s residence that was later used for the construction of the Hochhaus an der Weberwiese is adored with another quotation from Brecht: “Friede in unserem Lande, Friede in unserer Stadt, dass sie den gut behause, der sie gebauet hat.”

Promoted by Brecht, literalization of the cityscape aimed to create a new text of the city. Poetic inscriptions reinforced the building’s symbolical role: these edifices embodied the idea of constructing a new socialist city and a new society where – according to the official ideology – the workers were rulers enjoying the fruit of their labor.

In reality, it was precisely there, on the construction site in the heart of East Berlin that workers started a strike against higher work norms which turned into a widespread anti-government uprising in June 1953. The uprising that inspired Brecht’s poem “Die Lösung” (BFA 12: 310) was violently suppressed by Soviet troops and East German police. The buildings with the inscriptions glorifying workers remained. They continued to be part of Berlin’s city text through decades of the changing historical context, illustrating Brecht’s thoughts: “Das in den Stein getriebene Wort muß sorgfältig gewählt sein, es wird lange gelesen werden und immer von vielen zugleich” (BFA 22.1: 141).

Works Cited:

Bertolt-Brecht-Archiv. Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin (cited as BBA Folder/Sheet).

Brecht, Bertolt. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Berlin: Aufbau; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988-1997 (cited as BFA Volume: Page).

Hecht, Werner. Brecht Chronik: 1898-1956. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.

Steffin, Margarete. Briefe an berühmte Männer: Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Arnold Zweig.
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999.

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Yotam Gotal
The Demise of the Egoist Johann Fatzer (Tmuna Theatre, Tel Aviv)
May-June 2021

[Video clip in Hebrew, Fatzer fragment B49, BFA 10.1: 471f.]

I was first introduced to the Fatzer Fragment at an international workshop within the International Festivalcampus of Ruhrtriennale 2019, which I had attended as a member of the Tel Aviv University delegation, headed by Dr. Daphna Ben-Shaul. During one of his workshop lectures, Prof. Nikolaus Müller-Schöll mentioned a fragmentary text which he described as one of Brecht’s most interesting works. My notes from that summer day include the following scribble: “ask about Fatser (?)”

The fact that the Fatzer Fragment is so little known in Israel is both surprising and obvious. Its basic plotline – in as much as it exists, and I personally think it definitely does – resonates with a slew of aspects of Israeli life. Nevertheless, its intricate structure makes it so daunting that a theatre practitioner’s desire to keep a safe distance seems perfectly understandable. Still, even the quick read I did in my Bochum hostel room was enough for the scenes to jump off the Kindle. Two years and one pandemic after that night, we premiered with our production of The Demise of the Egoist Johann Fatzer at Tel Aviv’s Tmuna Theatre on 5 May 2021; the next performances are on 5-6 June 2021.

During the pre-production stages, many spoke of how relevant Fatzer seems to be for an Israeli audience – yet only managed to point to an almost generic soldierly tone. In our production, we wanted to avoid blanket militarisms. Instead, we tried to focus on the plethora of the parapraxes that we had identified in the material. To us, these seemed to be the strongest unifying factor connecting the various fragments. The inappropriate bursts of laughter, the slips of tongue, the physical glitches, and – the most scathing parapraxis of all – Fatzer’s failure to show up in the meat scenes oddly reminded us all of our military days. We could easily relate to the unconscious impulses which, we believed, were expressed by these parapraxes. For that reason, we dug deeper and deeper into the mundane errors of Frau Kaumann and of the four deserters; our adaptation and production accordingly shifted from a political to a more psychological sphere.

We do not know what Brecht would say about our decisions. However, several audience members approached us after the show, claiming that it reminded them of their time in the army, claiming that Brecht’s writing portrays psychological insights so deeply personal and particular that they become almost all-encompassing. I only say this because one of the most unique things about Fatzer, in Heiner Müller’s words, is that it is free from being a “product [delivered] to a public” and is “pre-ideological.” It follows that, as a group, we had many decisions to make. To us, Fatzer is the story of a group of soldiers who were merged – in a small tank, over the course of many years – into one being, a group of soldiers who must now engage in a process of re-individualisation. We tried to resonate with this in the set, costumes, props, and acting; all the while repeating Fatzer’s postulate that “Ganz unbeurteilbar/ Ist der Mensch dem Menschen” (B17).

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Kristopher Imbrigotta and Elena Pnevmonidou

Modern Languages Association Convention, Toronto 2021
IBS-sponsored panel series: “Ecocriticism and Brecht / Ecocriticism of Brecht”

Introduction and context
For someone whose artistic persona, politics, and aesthetic praxis are so inextricably associated with the large metropolitan cityscape, Brecht’s exploration of life in the city is informed by a remarkable affection for nature. This is evident in his myriad nature, animal, and tree poems; his attentiveness to the smallest evidence of enduring natural life even in the most inhospitable concrete spaces; and his sensitivity to the impact of weather and seasonal change on people and their struggles. Brecht’s political and ethical outlook does not pit humans against nature but rather views humans, in their creatureliness and vulnerability, as an integral part and expression of nature. His critique of capitalism thus comprehends environmental degradation and dehumanization as two interlinked devastations of our modern world.

This panel series explores Brecht’s preoccupation with nature and, in particular, two kinds of ecocritical approaches to Brecht. We ask, on the one hand, how an ecocritical analysis enriches our understanding of Brecht’s writings. How have scholars, artists, and critics engaged with and extended Brecht’s works regarding nature, the environment, and interactions between animals, plants, and humans? On the other hand, we propose that Brecht’s distinct approach to nature itself constitutes an ecocritical paradigm. We therefore ask to what extent do Brecht’s writings and theatrical praxis constitute a framework for a demystified and politicized approach to the Anthropocene (and the related topics of nature, animals, the non-human)? How can we understand and put into action the well-known Brechtian imperative about changing the world and the changeability of the world? The panel series articulates how Brecht’s works and theories can serve as a methodology of critical inquiry and practical intervention.

We conceived this panel series as a springboard to subsequent projects: 1) investigating Brecht though an ecocritical lens, and 2) employing Brecht’s works and theories as a framework for various ecocritical readings of cultural and literary production. These projects will culminate in a future IBS Symposium in Victoria, BC Canada in 2024: “Brecht in the Anthropocene: Nature / Environment / Naturalness / Earth / Animals / Humans.”

Included here are six of the seven papers from the two panels in condensed version by Joerg Esleben, Francesco Sani, Heidi Hart, Amir Hussain, Robert Britten, and Jason Fitzgerald.

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Joerg Esleben

Channeling Brecht in Two Recent Canadian Ecocritical Theatre Productions

Within the last six years, at least two major Canadian theatre productions explored and critiqued links between dysfunctional social structures and environmental devastation in ways that can be interpreted as Brechtian. The 2015 production Nuclear Sky, created in Montreal by the company Title 66 under the direction of Logan Williams and Jeremy Segal, was an experimental piece of devised theatre based on Mother Courage and Her Children. The Pipeline Project, a 2017 co-production of the Vancouver-based companies ITSAZOO Productions and Savage Society, directed by Chelsea Haberlin and written and performed by Kevin Loring, Quelemia Sparrow, and Sebastien Archibald, is a theatrical exploration of issues around oil pipeline construction. In my paper, I analyze the two productions through Theresa J. May’s concept of ecodramaturgical work (encompassing critical, artistic, and self-reflexive ecological elements) and argue that they offer different ways to think about how Brecht’s ideas can be made relevant to ecocritical performance.

Nuclear Sky blends the basic plot elements and characters of Mother Courage with citations from other sources and the creative team’s own textual input, resulting in a predominantly dark, dystopian script and performance that thematizes, like Brecht’s text, both physical devastation by war and violence as well as devastation on the level of social relations, brought on here by popular cultural and social media excesses. The Pipeline Project was presented in two parts: Act One consisted of a performance of the episodic script that Loring, Sparrow, and Archibald had developed together, whose dominant themes are difficult discussions about environmental concerns around pipeline construction, about First Nations history and land claims, and about Indigenous-settler relations, with all these issues linked (often humorously) to questions of personal and cultural identity; Act Two of the show was called a “Talk Forward” and consisted of an invited individual or group (mostly members of First Nations and activists) reacting to Act One before engaging in discussion with the director and the audience. These sessions were video recorded and posted on Facebook, where discussion could then continue.

There are a number of commonalities between the two productions. Both projects were born out of a frustration of not doing anything about diagnosed social problems, including environmental ones, a political passivity manifesting itself in the phenomenon of “slacktivism” (the ineffectual, passive use of social media to protest) and the absence of following up criticism and complaining with concrete action. This commonality in being motivated by a diagnosis of political passivity also led to similarities in using Brechtian approaches to addressing this problem. While The Pipeline Project was not, like Nuclear Sky, explicitly based on a Brecht text, both productions employ general theatrical strategies that can be regarded as “unconscious” Brechtianisms and that the makers of both shows acknowledge as such. The shows each include elements of meta-theatre, and both use media on stage in Brechtian ways. 

But it is precisely also in the area of media where further differences become apparent. Nuclear Sky is a critique of the pernicious effects of social media, including the distance they create from reality and from nature, and this critique relies on the use of media on stage to estrange this constellation for the audience. The Pipeline Project, while arguably also employing such mediatic Verfremdungseffekte in its Act One, attempts to directly implicate and activate the audience in its interactive second half and in that part’s extension on social media, making it possible to read the production as an ecocritical kind of Lehrstück. Thus, despite some commonalities, Brechtian influences manifest quite differently in the two productions and contribute to turning them into distinct variations of ecodramaturgical work.

Materials Cited:

Trailer, Information, and Scene Photographs for Nuclear Sky: https://www.josephbrowne.net/nuclear-sky-the-experiment.html

Trailer for The Pipeline Project: https://vimeo.com/273582002

Facebook page for The Pipeline Project with videos of Act Two sessions: https://www.facebook.com/thepipelineproject/

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Francesco Sani

Exploiting Nature, Exploiting Labor: Brecht’s The Exception and the Rule and Ecocriticism

The thematization of labour in Brecht’s 1930 Lehrstück Die Ausnahme und die Regel (The Exception and the Rule) is a particularly fruitful line of inquiry. Relying on the work of economic and environmental historian Jason W. Moore and anthropologist and philosopher Elizabeth A. Povinelli, my work stresses how Brecht configures labor as a transformative force affecting the surrounding environment as both a social and biological space. I argue that Brecht’s play mirrors the ecocritical frame of Moore and Povinelli, which in turn emphasizes how social and biological life are and must be seen as a belonging to the same order of activity and could not exist or be understood otherwise. Thus, the play is presented as an example of ecocritical practice, thanks to its capacity to address the problematic relation between human activity and ecological life and frame it within the modalities of social organization that have pivoted the current climate crisis, i.e., capitalistic accumulation. The study predominantly focuses on the textual analysis of Die Ausnahme und die Regel. However, the Lehrstück is also taken into account as a performance practice by relying on the consistent body of literature on the subject, first of all Reiner Steinweg’s seminal work on the topic.

Consequently, I propose that the Lehrstück as such can be considered a performance practice bearing an ecocritical potential within the context of the contemporary culture industry. This is argued on account of the critical configuration of relationality between subjective and collective identity framed within performative action and physical space distinctive of the Lehrstück as performance, therefore including but transcending an individual text such as Die Ausnahme und die Regel. I emphasize how this operation is always conducted within the terms of material praxis and with attention to the structures of immanent relationality to praxis that the subject participating in the Lehrstück must confront. In other words, the Lehrstück is an experimental exercise in social behavior and relationality within the sphere of material praxis. Thus, it is possible to identify potential in the practice to foster an auspicated reconfiguration of collective social behavior in response to the current ecological crisis.

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Heidi Hart

Against the Eco-Trance: Sounding Brechtian Estrangement in Environmental Media

In most nature documentaries, lush, classically informed music accompanies images of blossoms opening, predators stalking their prey, or strange life-forms navigating the ocean’s depths. In environmentally driven artworks, large-scale immersive aesthetics, along with “forest bathing” experiences and Zoom-shared “soundbaths” have become commonplace. Such audiovisual responses to climate crisis (and perhaps in a comforting sense, to the current pandemic) tend to be mimetic and even trance-inducing, and they rarely exhibit the distancing counterpoint that Adorno and Eisler foregrounded in the 1940s and that signals irony in many feature films today. On the other hand, environmental films and artworks that do employ estranging techniques can disrupt passive entertainment and encourage curious criticality toward a planet in crisis. 

This presentation explores Brechtian estrangement in Daniel Dencik’s 2013 film Expedition to the End of the World, which reifies music as a brittle human artifact rather than treating it as ambient background. In the film’s opening sequence, elegiac Mozart is interrupted by Metallica, an unresolved collision not unlike musical scoring in Brecht’s Lehrstücke. As the film veers into mockumentary, it unsettles viewers’ expectations of what a movie about melting Greenland ice should be, and what they have taken for granted in viewing climate documentaries. This presentation also considered Diana Thater’s art installation Delphine (2018 version), which foregrounds the artificiality of nature photography, with only the sound of a projector as images of dolphins slide by, as if being remembered after their future extinction. This “baring the device” technique also exposes visitors’ default modes of consuming nature films, which tend toward either predictable comfort or doom-and-gloom aesthetics. In Benedikt Erlingsson’s film Woman at War (also 2018), a band playing percussive, Eislerian music appears in odd moments, both estranging and enlivening the story of an eco-warrior who also happens to be a choir director. The film’s oscillating mood, between humor and violence, with some Mozart in the mix here, too, likely leaves viewers with a sense of animated criticality, not only toward the story onscreen but also toward their own responses to climate change. Sonic distancing in these three intermedial works reminds audiences that a soundtrack is a contingent Anthropocene artifact and that humans privileged enough to make art can also make a difference in the planet’s fate. As a result of the panel discussion, I plan to further my work on this topic by considering the role of class struggle in applications of Brechtian estrangement to eco-art in various media. As I investigate films and artworks that portray environmental racism, for example, I will be curious to see if their sound design relies mainly on pathos or if more critical audiovisual modalities emerge. I may discover that climate crisis requires a broadening of twentieth-century definitions of capitalist injustice, to include nonhuman species as well, and that dialectical aesthetics do not need to be limited to the human sphere to foster critical discomfort with the planet’s fossil-fueled status quo.

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Amir Hussain

Brechtian Lyric and the Matter of Nature

Debates about where to position Bertolt Brecht and his work are lively and participate in long-standing questions about the relationship between historical and literary studies. The historicist approach taken by Frederic Jameson in his Brecht and Method informs his reading of Brecht. For Jameson, the multiple “historical layers” in which Brecht found himself – including WWI, Nazism, international exile, and WWII – are inscribed within his literature and consequently are vital for reading and understanding his work (7). For Jameson, then, the “matter of nature” in Brecht is “in reality historical” (172-173). Meanwhile, Hannah Arendt foregrounds Brecht the person and writer in her Men in Dark Times, suggesting, for example, that “the great poetic intelligence of Brecht, that supreme gift of condensation which is the prerequisite of all poetry… [lies in] his utterly condensed and hence very tricky way of thinking” (226).

In my paper I read key words in Brecht’s “Ballade über die Frage: Wovon lebt der Mensch?” – from the opera-play Die Dreigroschenoper that made him internationally famous during his exile – in order to position Brecht’s work at a crossroads between (Marxist) historicism and the multiplicities of the language of poetry. To consider what using poetry opens up for Brecht’s criticism matters not only for reading Brecht but more broadly for recuperating the more profane content of a non-dogmatic Marxism that undoubtedly plays an important role for Brecht, his work, and his approach. To that end, I read the tensions in the ballad’s lines and phrases in connection with the word “Fressen” in Brecht’s refrain – ”Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral” – so as to delineate a Brechtian position at a crossroads. On the one hand, “Fressen” clearly speaks to the unfriendly struggle over material and natural resources that makes Brecht recognizably Marxian, while on the other hand, key words in the poetry bring out tensions that are not reducible to Marxist historicism and indeed that point to complicated questions about humans and materiality that may not neatly fit into or find a place within Marxist historicism.

The question posed in the ballad – ”Wovon lebt der Mensch?” and its retort ”Fressen” – suggests a profane dilemma to which such a historicism has not adequately responded. My reading shows that while Brecht’s ballad can be mined for the ways in which it speaks to Marxist historicism, he is nonetheless not necessarily the Brecht that Jameson wants him to be. I argue that words rhyming with “Fressen” employed in the ballad – such as “Vergessen” and “Essen” – work with the particularity of the German language’s composite words to connote a profane frenzy within the fold of the human. Moreover, using the compact language of poetry means that words and rhymes can be packed not only with weight but also with connections to other words in the language unit of the poem. In that sense, Brecht’s poetry and the writer himself elide a defined narrative, always ready to “trick” the reader or viewer into discovering not only another version of events but also their sense. In my view, treating seriously the complexity and inconsistencies that Brecht’s key words like “Fressen” pose (including linguistic analysis within or across languages) means paying attention to the impermanent language of and in poetry, while retaining a broad kind of historicism means that reading and engaging with Brecht does not fall into a sweeping relativism devoid of the material struggles that Brecht so adamantly sought to display and preserve in his works.

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Robert Britten

“Zeichne einen Baum, auf den du klettern könntest”: Embodied Perception as a Critical Tool in Brecht’s Nature Poetry

In Brecht’s suggestion that “[die Realität] ist längst nicht mehr im Totalen erlebbar” (BFA 21, 469) we can trace a distinct wariness of perceptual experience: the world does not show up for us as the complex and contradictory set of structures and relations that Brecht’s work seeks to uncover. Our environments appear stable and coherent, rather than changing and changeable. In the poem “Schlechte Zeit für Lyrik” delight with a blossoming apple tree contends unfavorably (we are told) with the horror at Hitler’s speeches. 

That said, however, Brecht’s poetry frequently pays careful attention to plants, the seasons, landscapes, and ordinary life: “Die Buchten entschälen sich des Eises. Wann / Werden die Schlachtschiffe einlaufen?” the poem 1940 asks, attaching the interrogative “Wann” to the end of the line containing the observation of the seasonal change, connecting “Frühjahr” to “Furcht” (BFA 15, 10). In Frühling 1938 (1), conversely, the little apricot tree caught in a snow storm imports a sense of resilient hope: the poet-speaker and his son cover it with a sack to protect it against the cold (BFA 12, 95).

In the very early years of exile, Brecht jots down the following “Zeichenaufgaben”: 

Zeichne einen Baum, auf den du klettern könntest.
Zeichne einen Baum, auf den du nicht klettern könntest.
Zeichne einen Baum, der vor deinem Haus stehen könnte.
Zeichne eine Landschaft, in der du an einem schönen Tag im Juli kampieren und in Freien essen wolltest.

[…] (BFA 22, 11)

What is Brecht asking for here? He demands a portrayal of trees, of a landscape, not in the form of snapshots that invite passive spectating, but rather as an environment we inhabit, which shows up in perceptual experience as temporally and spatially structured by possibilities for engagement. Here, Brecht challenges a common psychological account of perception, dominant in his time but now increasingly challenged by a “pragmatic turn” (Dennett) in the sciences of mind: namely, that our senses merely sample information from our surroundings, building up inner mental representations: “I” am in my head, while the world is out there, with information traversing a boundary between me and it. Perceiving, in this view, is a kind of passive picture-viewing in a “Cartesian Theatre” (Engel, et al.) in “the nonexistent place in the brain where everything (i.e., all our sensory inputs) comes together and ‘consciousness happens’ as a private show watched by ‘me’” (Troscianko).

Brecht anticipates a different view, in which perception is neither passive nor impotent in this way. The perceivers that speak in Brecht’s poems are not spectators. Their perception serves, and manifests in itself, a form of action; they move their bodies to change, or use tools to extend their perspectives; they strain their ears to make out the distant thundering of maneuvering ship guns amidst bird song:

In das Gezwitscher der Stare
Mischt sich der ferne Donner
Der manövrierenden Schiffsgeschütze
Des Dritten Reiches.  (BFA 12, 95)


Such perceivers do not need to decide between attention to the blossoming apple tree and attention to Hitler’s speeches. The experience of one calibrates the other, each makes the other salient. Such is the critical potential of perceptual acts here: not only does perception allow us to successfully access and navigate the world, but it allows us also to actively come to meet it, to bring it into focus, and ultimately, to intervene in it. 

Works Cited:

Brecht, Bertolt. Große Kommentierte Berliner Und Frankfurter Ausgabe, ed. by Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, and Klaus-Detlef Müller (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993).

Dennett, Daniel C. “Reflections on Language and Mind,” in Language and Thought. Interdisciplinary Themes, ed. by Peter Carruthers and Jill Boucher (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 1998), 284–94.

Engel, Andreas K., Karl J. Friston, and Danica Kragic. “Introduction: Where’s the Action?” in The Pragmatic Turn: Toward Action-Oriented Views in Cognitive Science, ed. by Andreas K. Engel, Karl J. Friston, and Danica Kragic (Cambridge, MA: MIT Press, 2015),1–18.

Troscianko, Emily. Kafka’s Cognitive Realism (New York: Routledge, 2014).

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Jason Fitzgerald

Staying in Place: Bringing The Great Immensity Home

I use the 2014 Brecht-inspired musical The Great Immensity, written and staged by The Civilians, to argue that among Brecht’s most useful eco-critical tools is his theatricalization of place. The argument is that a Brechtian approach to theatricality can translate the experience of displacement, understood as what Ursula Heise calls “deterritorialization,” into a cue to greater consciousness of one’s position in a changing and complex global ecology. 

First, my work draws upon Una Chaudhuri’s diagnosis of geopathology, or “place as problem,” as foundational to modern drama, and second, Samuel Weber’s claim that theatrical mediation, which involves representing events onstage that happen elsewhere than in the place of performance, is built on a tension between narrative and staging, or what Aristotle calls muthos (plot) and opsis (performance). Weber draws from this insight a deeply Brechtian model of dramatic performance as a navigation of displacement and instability. This model is exploited by what Weber calls “staged stories,” which, because they privilege their “middles” over their “beginnings” and “endings,” call attention to the processes of mediation required to narrativize.

Weber distinguishes “staged stories” from two alternative models of theatrical presentation. The first is a “mythological” Aristotelian theatre that privileges plot over setting, muthos over pathos, as in dramatic realism. The second model positions live performance as an antidote to the society of the spectacle. Guy Debord’s diagnosis for overcoming the spectacle, Weber demonstrates, is anti-theatrical in its faith in authenticity, wholeness, and a moral journey. This model understands the theatre as a supremely local art form dependent on liveness and co-presence, not unlike the pastoral valorization of the local that Ursula Heise critiques.

The Great Immensity, in its explicit attempt to imagine a response to the “immense” scale of climate crisis, holds the three different dramatic models described above in an uncomfortable tension within the play’s dramaturgy. The “mythological” slice, which centers on a wife searching for her missing husband, resembles a realist drama and so evinces the geopathology that a reader of Chaudhuri would expect. The Debordian slice of the play centers on a group of young people who fake their own kidnapping to force world leaders to fight climate catastrophe. The moral journey of these young people, from false consciousness to heroism, precisely follows a Debordian search for authenticity, while a theatrical privileging of invisibility over stage presence supports Weber’s warning of this model’s basic anti-theatricality. Finally, the slice of the play that functions as a “staged story,” or what we might call a post-Brechtian theatre, is found largely in the play’s musical numbers and scenes featuring minor characters.

The critical value of The Great Immensity is that it formally and thematically articulates the limits of the first two strategies, which resist being placed, so that both characters and audience are drawn away from acknowledging their situatedness. The Brechtian slice of the play, by contrast, privileges the messy, felt interconnection of place and displacement that is fundamental to theatrical representation to help spectators understand ecological displacement as neither overwhelmingly totalizing (i.e., only global) nor individual (i.e., only local) but as born from the interrelation of the two.

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